Was ihr denn zu Deutschland einfalle, wird eine junge Frau (leider blond) gefragt. Sie überlegt einen Moment, dann noch einen, und zuckt mit den Schultern. Nichts. Keine Gedanken, keine Assoziationen, keine Haltung. Zum Glück ist sie damit in der absoluten Minderheit in „Deutschland. Dein Selbstporträt“, einer schier überbordenden Kompilation aus Videoschnipseln, die an einem Junitag des Jahres 2015 im ganzen Land von ungezählten Menschen mit ihren Kameras, Smartphones und Tablets aufgezeichnet wurden. Das Format folgt der Grundidee von Ridley Scotts Produktion „Life in a Day“, die 2010 als globales Projekt startete und seitdem Nachfolger in Japan und Italien fand. Unter der künstlerischen Leitung von Sönke Wortmann („Das Wunder von Bern“, „Die Päpstin“), der zehn Jahre zuvor bereits dem deutschen WM-„Sommermärchen“ ein filmisches Denkmal setzte, wird daraus ein lockerer ethnologischer Allround-Essay. Optisch nah am YouTube-Clip, entwickelt der Bilderfluss dank schlüssiger thematischer Gliederung streckenweise durchaus eine gewisse Tiefgründigkeit. Nur große Emotionen darf man sich von der extrem schnell geschnittenen Bastelarbeit nicht erhoffen.
Es ist der 20. Juni 2015. Die Deutschen sind aufgerufen, diesen wolkenverhangenen Frühsommertag in all seinen Facetten zu dokumentieren. Sie filmen sich zu Hause und unterwegs, bei Arbeit, Sport und Spiel, reden über Gott, die Welt und vor allem über Deutschland. Sie stehen auf, essen, arbeiten, feiern, singen, kochen. Kinder werden geboren, Paare heiraten, und manch einer gedenkt der Toten. Drei Fragen stehen ganz besonders im Zentrum: Was macht dich glücklich? Wovor hast du Angst? Was bedeutet Deutschland für dich?
90 Grad – so klein ist der Winkel, um den man sein Smartphone kippen muss, um vom Hoch- ins Querformat zu kommen, vom Porträtfoto zum Kinobild sozusagen. Leider, man kann das im Alltag immer wieder beobachten, verfügen nur wenige Handybesitzer über dieses Wissen. Bei YouTube sieht man daher immer öfter die hässlichen schwarzen Flächen rechts und links vom Bild; sie wirken wie groteske Parodien jener schwarzen Balken, die früher das Spielfilmbild auf dem 4:3-Fernseher säumten. In „Deutschland. Dein Selbstporträt“ muss der Zuschauer dieses Bildformat ziemlich häufig erdulden – und erkennen, dass es noch bescheuerter aussieht, wenn man es im stetigen Wechsel mit 16:9 Bildern montiert. Auch sonst ist der Film in visueller Hinsicht notgedrungen eine Mischung aus sehr unterschiedlichen Bildqualitäten und Filmstilen; mal hilflos verpixelt, mal hübsch arrangiert, mal mit filmischer Verve so richtig auf den Punkt inszeniert. Diese Mischung gehört natürlich zum Konzept und macht letztlich auch den Charme der Sammlung aus; gerade weil hier Hunderte von „Autorinnen“ und „Autoren“ zu Wort kommen, entsteht ja tatsächlich so etwas wie ein authentisches, vielleicht sogar repräsentatives Deutschland-Bild.
Sehr bunt und vielfältig ist dieses Bild, ziemlich nah am Sommermärchen sogar, bei dem sich die Nation überraschend leicht und heiter präsentierte und kaum Ähnlichkeit mit den Klischees vom pflichtbewussten, humorlosen, spießigen Deutschen zeigte. „Deutschland strengt sich an“, sagt eine Frau, und bringt damit noch am besten die Mentalität und den Antrieb ihrer Landsleute auf den Punkt. Eine andere Frau wünscht sich, dass ihre an einem Tumor erkrankte Freundin diesen Film noch sehen kann – denn das hieße, dass sie die Krankheit besiegt hat. Es ist der mit Abstand emotionalste Moment im ansonsten auf mittlerer Temperatur köchelnden deutschen Eintopf. Vor allem geht es ums Private, um Kinder, Partner, Freunde und Geschwister, um den Spaß am Dasein und, immer wieder, auch um die Dankbarkeit, in diesem am Ende vergleichsweise freizügigen Land leben zu dürfen. Das Flüchtlingsthema stand an jenem 20. Juni 2015 noch nicht so sehr im Fokus, es wird hier und da gestreift, aber kein Zweifel: Inzwischen würde es einen höheren Stellenwert besitzen.
Fazit: Unterhaltsames, geringfügig zu lang geratenes Kollektivvideo vom deutschen Seelenleben im YouTube-Zeitalter.