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    Pinocchio
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    2,0
    lau
    Pinocchio

    Einfach nachgeschnitzt

    Von Sidney Schering

    Seit einigen Jahren verpasst der Disney-Konzern seinen beliebten Zeichentrick-Klassikern ein Remake nach dem anderen, die jedoch nicht alle aus demselben Holz geschnitzt sind: Während manche wie etwa „Cinderella“ von Kenneth Branagh zwar Elemente aus den ikonischen Vorgängern übernehmen, aber darüber hinaus auch eigene Wege gehen, kopieren Remakes wie Jon Favreaus „Der König der Löwen“ ihre Vorlage einfach nur so exakt wie möglich, nur eben mit einer neueren Technik. Die kurzzeitig für eine Kinoauswertung angedachte, schlussendlich aber als Disney+-Premiere veröffentlichte „Pinocchio“-Neuauflage gehört leider in die letztgenannte Schublade.

    Es gibt zwar durchaus einige Änderungen in Form verkürzter, gestrichener oder hinzugefügter Musikeinlagen, abgewandelter Dialoge und zusätzlicher Exposition. Aber im Großen und Ganzen erzählen Autor Chris Weitz („About a Boy“) und Autor/Regisseur Robert Zemeckis („Zurück in die Zukunft“) Disneys legendäre Zeichentrickadaption des nicht minder berühmten Carlo-Collodi-Kinderbuchs einfach nur nach – nur eben mit einigen Menschen aus Fleisch und Blut sowie einigen Figuren aus dem Computer statt vom Zeichentisch. Leider geht dabei ein großer Teil Feenglanz verloren.

    Spielzeugmacher Geppetto (Tom Hanks) ist hocherfreut, dass seine selbstgebastelte Marionette Pinocchio zum Leben erwacht ist.

    Der einsame Tischler und Spielzeugmacher Geppetto (Tom Hanks) stellt eine Marionette her, die seinem verstorbenen Sohn nachempfunden ist. Er nennt sie Pinocchio und wünscht sich aus der Tiefe seines Herzens, dass aus ihr ein richtiger Junge wird. Dank der Magie eines hell leuchtenden Sterns und der Blauen Fee (Cynthia Erivo) erwacht Pinocchio tatsächlich zum Leben und erhält mit der gewitzten Grille Jiminy (Stimme im Original: Joseph Gordon-Levitt / in der deutschen Synchro: Oliver Rohrbeck) zudem ein ausgelagertes Gewissen. Doch auch ein fideler Mentor wie Jiminy kann Pinocchio nicht vor allerlei Trubel bewahren...

    Wer sich je gefragt hat, wieso Pinocchio eigentlich Pinocchio heißt, bekommt hier gleich mehrfach die Antwort diktiert: Der hölzerne Bengel besteht aus Pinienholz! Und wer immer schon wissen wollte, warum sich Geppetto eine lebendige Marionette wünscht, bekommt die Ausführungen dazu hier ebenfalls auf dem Silbertablett serviert. Aber ist es nicht seltsam, dass eine durch Magie zum Leben erweckte Puppe eine sprechende Grille als Gewissen zur Seite gestellt bekommt? Keine Sorge: Jiminy Grille hinterfragt jetzt stellvertretend für das skeptische Publikum ebenfalls, dass Gewissen einfach so outgesourct werden.

    Antworten auf Fragen, die niemand gestellt hat

    Außerdem wird gezeigt, wie während Pinocchios Auftritt in einem Puppentheater die restlichen Marionetten bedient werden – und so weiter: Weitz und Zemeckis haben ein Drehbuch verfasst, das sich verkrampft der „Generation Plothole“ anbiedert, statt sich aufs Wesentliche zu konzentrieren. Das bläht die Laufzeit auf, ohne die Erzählung zu bereichern: Geppettos nun auserzählter Kummer etwa beläuft sich meist auf beiläufige Erwähnungen, während seine albern-munteren Interaktionen mit Pinocchio dafür im Gegenzug zusammengestutzt wurden. Deshalb hat Hanks' Tischler auch weniger Persönlichkeit als sein Zeichentrick-Pendant, worunter die Emotionalität der gesamten Geschichte leidet.

    Dieses Problem zieht sich durch den ganzen Film: Fiesling Stromboli bekommt etwa eine Assistentin namens Fabiana, die von Kyanne Lamaya als warmherziger Einfluss auf Pinocchio angelegt wird. Weitz und Zemeckis hätten ihrem Remake mit der idealistischen, vom Showgeschäft träumenden Frau einen eigenen Dreh verleihen können. Stattdessen ploppt die Figur sporadisch zwischen Szenen auf, die sich eng am Original orientieren, sodass Fabiana wahlweise wie ein Fremdkörper oder die Story fahrig wirkt. Das führt ironischerweise dazu, dass der Film trotz seiner Besessenheit, die vermeintlich offenen Erzählfäden der Zeichentrickvariante zu schließen, zahlreiche neue Löcher aufreißt.

    Das Gewissen von Pinocchio ist ausgelagert - in Form von Jiminy Grille.

    Denn anders als etwa in „Cinderella“, wo neue Ideen weitergedacht werden und dem Remake eine gewisse Eigenständigkeit verleihen, sind die meisten Neuheiten in „Pinocchio“ Augenwischerei oder gar kontraproduktiv. So wurden dem Stoff, der bereits 1940 sanft-pfiffig die sogenannte vierte Wand durchbrochen hat, ein paar Meta-Gags hinzugedichtet. Allerdings scheute man vor konsequenter Dekonstruktion zurück, sodass die gelegentliche, aggressive Selbstironie deplatziert wirkt. Das größte Novum derweil wird gen Ende derart unmotiviert in den Plot gehobelt, dass ihm jegliche emotionale Wirkung abhandenkommt. Sicherlich ist es für diejenigen, die den Zeichentrickfilm kennen, eine Überraschung, aber die gerät in Ermangelung des entsprechenden erzählerischen Kontexts ziemlich gleichgültig.

    Die Inkonsequenz des Films wird am stärksten durch den Ausflug auf die Vergnügungsinsel verdeutlicht, wo Kinder dazu verführt werden, sich daneben zu benehmen. Dass der Schauplatz vom unrühmlichen Jahrmarkt zu einer abgeschmackten Glitzerwelt irgendwo zwischen megalomanischer Kirmes und Tim-Burton-Albtraum abgewandelt wird, ist ein gewitzter inszenatorischer Einfall. Selbiges gilt dafür, dass Pinocchio in einem Boot durch den Rummel fährt, als wäre dies die aufwändigste Disneyland-Attraktion der Geschichte. Dass Pinocchio sich jedoch aufgrund des Fehlverhaltens der Kinder sichtlich unwohl fühlt, nimmt der Sequenz ihren Biss.

    Helium statt Holz

    In einem durchdachten Remake hätte man den Sinn hinter der Szene geändert, etwa einen kreuzbraven Pinocchio gezeigt, der verzweifelt versucht, den Schabernack auszubremsen. Dieses Remake hingegen zieht der Sequenz ihre Zähne, drängt ihr aber die gewohnte erzählerische Funktion auf, inklusive Teil-Verwandlung Pinocchios zum Esel, um sein – in dieser Fassung gar nicht mehr vorhandenes – Fehlverhalten zu bestrafen. Dass sich das Design der Titelfigur extrem nah am Look seines Zeichentrick-Pendants orientiert, Pinocchio jedoch mit einer Leichtigkeit durch die Welt schwebt, als sei er nicht aus Holz, sondern ein Heliumballon, wird da glatt zur ungewollten Metapher für die Probleme des Films.

    Es sind daher allein Randaspekte, die den neuen „Pinocchio“ vor der völligen Belanglosigkeit bewahren. Dazu zählen die leider ungenügend genutzte Fabiana und der einladende Look des italienischen Küstendorfs, in dem die Geschichte spielt. Weitere Pluspunkte sind das Produktionsdesign in Geppettos Haus, selbst wenn das dortige Dauerfeuer an Disney-Eigenreferenzen nicht nur gewitzt, sondern auch aggressiv daherkommt. Gelungen ist auch der im Original von Keegan-Michael Key gesprochene Ehrliche John. Der betrügerische Fuchs feuert einige der besseren Gags ab und ist großartig animiert – er balanciert mühelos zwischen karikaturesker Vitalität und realitätsnaher Detailliebe.

    Die Texturen von Jiminy Grille wiederum lassen ihn gelegentlich hölzerner aussehen als Pinocchio. Dafür erweist sich Joseph Gordon-Levitt nach „The Walk“ erneut als liebenswert-gewitzter Erzähler, der hervorragend mit Zemeckis' Erzählfarbe harmoniert. In der deutschen Fassung spricht die Rolle passenderweise Oliver Rohrbeck, der vor 49 Jahren in der seither geläufigen Neu-Synchronisation des „Pinocchio“-Zeichentrickklassikers die Titelfigur eingesprochen hat. Aber wenn der gewiefteste Meta-Gag das Casting der deutschen Synchro ist, braucht es mehr als einen Stern in finst'rer Nacht, damit aus einem hölzernen Remake ein richtiges Filmvergnügen wird.

    Fazit: Wenig Eigenständigkeit und noch weniger Filmzauber: Robert Zemeckis' „Pinocchio“ fügt dem größtenteils einfach nur imitierten Disney-Zeichentrickklassiker zwar allerlei erzählerischen Ballast hinzu, bleibt am Ende aber dennoch unbeseelt.

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