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    Tatort: Wer bin ich?
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Tatort: Wer bin ich?
    Von Lars-Christian Daniels

    „Das Leben ist wie eine Schachtel Pralinen: Man weiß nie, was man kriegt“, sinnierte einst Tom Hanks in seiner berühmten Rolle als „Forrest Gump“ auf der Parkbank – und diese vielzitierte Weisheit trifft auch auf den „Tatort“ aus Wiesbaden zu. Der Hessische Rundfunk – ohnehin der innovativste öffentlich-rechtliche Sender, wenn es um die erfolgreiche Krimi-Reihe geht – nutzt die Fälle von LKA-Kommissar Felix Murot (Ulrich Tukur) seit dessen Debüt im Jahr 2010 gern als Spielwiese für ausgefallene TV-Experimente, die zwar zu kontroversen Zuschauerdebatten und eher mäßigen Einschaltquoten führen, die Grenzen der Krimireihe aber munter ausloten (und den Filmemachern einen Fernsehpreis nach dem nächsten bescheren). Nach der vieldiskutierten Krimi-Groteske „Tatort: Das Dorf“ und der überragenden Italo-Western-Theater-Oper „Tatort: Im Schmerz geboren“ folgt nun der nächste Beitrag, an dem sich garantiert die Geister scheiden werden: In Bastian Günthers außergewöhnlicher Film-im-Film-Konstruktion „Tatort: Wer bin ich?“ nehmen gleich fünf „Tatort“-Schauspieler sich selbst und den Rest der hessischen Krimiwelt auf die Schippe. Das Ergebnis: eine der lustigsten „Tatort“-Folgen aller Zeiten und zugleich der originellste Beitrag des Jahres 2015.

    LKA-Kommissar Felix Murot (Ulrich Tukur) und seine Kollegin Magda Wächter (Barbara Phillipp) werden zum Wiesbadener Spielcasino gerufen. Im Parkhaus liegt eine Leiche – und im Wagen des Toten entdeckt die Spurensicherung kurz darauf eine zweite. Einer der beiden Toten hatte am Abend zuvor eine größere Summe Geld gewonnen, doch von dem Gewinn fehlt jede Spur. Dann plötzlich ein Schnitt: Die Szene ist im Kasten. Ulrich Tukur (Ulrich Tukur) gönnt sich gemeinsam mit der Leiche am Catering-Stand einen Kaffee. Und muss kurz darauf feststellen, wie man sich als Tatverdächtiger fühlt: Auch der Assistent des Aufnahmeleiters, mit dem er selbst am Vorabend im Casino das „Bergfest“ der Dreharbeiten gefeiert hatte, wurde ermordet. Die argwöhnischen Polizisten Kugler (Sascha Nathan) und Kern (Yorck Dippe) überprüfen sein Alibi, doch Tukur kann keines vorweisen. Er hatte zu viel getrunken und kann sich nicht mehr erinnern, wie er nachts heimgekommen ist. Der Dreh wird abgebrochen – und Tukur muss erkennen, dass es in der Filmbranche kaum Loyalität gibt...

    Schon allein aufgrund der pfiffigen Film-im-Film-Konstruktion ist die 968. Ausgabe der Krimireihe strukturell die bis dato außergewöhnlichste. Wer angesichts dieser Verschachtelung ein undurchsichtiges Verwirrspiel befürchtet, kann sich allerdings entspannen: Die eigentliche Rahmenhandlung um die beiden Toten im Parkhaus spielt schon nach wenigen Minuten keine Rolle mehr. Die Filmemacher werfen stattdessen einen fiktiven Blick hinter die „Tatort“-Kulissen: Die HR-Redakteure Liane Jessen und Jörg Himstedt werden kurzerhand zu Inge Janssen (Caroline Schreiber) und Jens Hochstätt (Michael Rotschopf) – und hätten mit Matthias Schweighöfer oder Heino Ferch natürlich schon Nachfolgelösungen im Petto, wenn ihr offenbar gut bezahlter „Tatort“-Hauptdarsteller Tukur wirklich Dreck am Stecken haben sollte. Auch Justus von Dohnányi, der bei den Murot-Folgen „Tatort: Das Dorf“ und „Tatort: Schwindelfrei“ Regie führte, ist mit von der Partie: In der Rolle des exzentrischen Regisseurs („Ulis Strahlkraft wirkt noch mehr durch seine Abwesenheit. Indem alle nur über ihn reden, wird er richtig präsent!“) freut er sich wie ein kleines Kind über Biergulasch in der Kantine und stiehlt fast jede Szene, in der er auftritt.

    Für den Rest des üppigen Gag-Feuerwerks sorgt ein „Tatort“-Trio, das in Wiesbaden eigentlich gar nichts verloren hat: Wolfram Koch und Margarita Broich, die seit Mai 2015 als Hauptkommissare Paul Brix und Anna Janneke in Frankfurt auf Täterfang gehen, spielen sich ebenso selbst wie der glänzend aufgelegte Martin Wuttke, der im April als Leipziger „Tatort“-Kommissar Andreas Keppler den Dienst quittierte. Der Spaß an diesem einmaligen Experiment ist allen Beteiligten anzumerken: Während Koch sich im Bademantel Schampus aufs Hotelzimmer liefern lässt („Zahlt doch alles der Sender!“), zickt Broich am Set des eigenen „Tatort“-Drehs rum, weil ihr Leinwandpartner im größeren Wohnwagen hausen darf. Wuttke hingegen steht nach seiner Entlassung durch den MDR vor der Privatinsolvenz und muss sich in schlechten Dialogen als Nebendarsteller verdingen – es ist ein urkomischer, vielleicht sogar Wuttkes bester „Tatort“-Auftritt. Auch Barbara Phillipp darf sich selbst auf die Schippe nehmen: Schon bald kehrt sie Wiesbaden den Rücken, weil sie von Arthouse-Filmen und den Filmfestspielen in Cannes träumt („Der Tukur darf doch auch einen Nazi nach dem nächsten spielen!“). Ulrich Tukur hingegen hält sich in seinem Spiel bewusst zurück: Entgegen seiner sonst oft von Charme, Ironie und Charisma geprägten Rollen erleben wir ihn als abgehalfterte Persona-Non-Grata, die sich am Set der eigenen Frankfurter „Tatort“-Kollegen vor der Polizei verstecken muss.

    Anders als zum Beispiel im „Tatort“ aus Münster, in dem sich die Albernheiten allein aus den Figuren ergeben, resultiert der extrem hohe Unterhaltungswert dieser Krimi-Satire aus pointierten Dialogen, köstlicher Situationskomik und jeder Menge subtiler Anspielungen – zum Beispiel dann, wenn Tukur beim Verhör wie selbstverständlich aus einer stilechten „Tatort“-Tasse trinkt. Regisseur und Drehbuchautor Bastian Günther, der mit Tukur auch die Charakterstudie „Houston“ drehte, geizt dabei nicht mit Seitenhieben auf die Filmbranche: Schnell entlarvt er Tukurs Kollegen als falsche Fuffziger, bei denen Neid und Missgunst durch vordergründiges Duzen und Küsschen überspielt werden. Trägt Koch beim Dreh als Frankfurter „Tatort“-Kommissar zu dick auf, fährt ihm der Regisseur (Matthias Scheuring) gleich barsch dazwischen („Wir sind hier doch nicht in Münster!“). In einigen Momenten ist der Grat zwischen Selbstironie und Selbstverliebtheit allerdings schmal: Während im Schneideraum ein „Tatort: Im Schmerz geboren“-Poster hängt, zappt sich Tukur auf dem Hotelzimmer durch die berühmte Tanzszene der Kessler-Zwillinge im „Tatort: Das Dorf“. Dennoch: Auch mit diesem Beitrag aus Wiesbaden erfindet der HR den „Tatort“ wieder neu – und wenn Tukur als Tukur am Ende Tukur als Murot begegnet, weht sogar ein Hauch von „Fight Club“ durch den Film.

    Fazit: Bastian Günthers „Tatort: Wer bin ich?“ ist ein höchst unterhaltsamer, strukturell ausgefallener Mix aus klassischem Krimi und bissiger Satire – und zugleich die selbstreflexivste „Tatort“-Folge aller Zeiten.

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