Im ersten Moment ein berechenbares Gefühlsdrama. Vielleicht noch mit einer Prise Werbefilm für Websites, die verschollene Menschen endlich wieder zusammenbringen. Selbst während des Vorspanns kann man sich trotz aller tollen Bilder dieses Eindrucks nicht immer erwehren, die Filmmusik übertreibt es hier und an manch anderen Stellen ein wenig mit dem Suggerieren der erwünschten Emotionen. Doch die beiden jungen Darsteller, die selbst alle im Film auftauchenden Hollywoodstars an die Wand spielen, und die konsequent auf Indisch gedrehte und in der deutschen Fassung erfreulicherweise so belassene erste Filmhäfte machen "Lion" zu etwas besonderem. Die Hitze und Lebendigkeit Indiens quillt aus jeder Einstellung und das ganz ohne unrealistischen Bollywood-Kitsch.
Kaum ist Saroo in Kalkutta zwielichtigen Kinderfängern entkommen, lauern nämlich auch schon neue Gefahren auf ihm. Da gönnt man es ihm sehr, endlich ein neues Zuhause zu finden. Aber auch dort herrscht keine heile Welt: Einem vom gleichen Ehepaar adoptierter "Bruder" aus dem Waisenhaus bekommt die neue Situation nicht so gut wie der Hauptfigur, Verhaltensauffälligkeit und problematische Lebensführung deuten sich an. Da wirkt Dev Patel als erwachsener Saroo mit seinen unschuldigen großen Augen und dem wuscheligen Jesus-Look fast ein bisschen zu idealistisch, selbst wenn er an der eigenen Sinnsuche zu verzweifeln droht. Nicole Kidman und David Wenham geben dafür ein warmherziges Elternpaar ab, obwohl die Chemie zwischen ihnen stimmiger sein könte. Nur Rooney Maras Talent wirkt hier verschwendet. Als Saroos Freundin wurde sie vermutlich aufgrund der Buchvorlage in der Handlung belassen, ihre Figur bleibt jedoch blass und die Beziehung wirkt in ihrer Gesamtheit unmotiviert und überflüssig.
Wäre die Geschichte nicht wahr, müsste man ihr noch Konstruiertheit und ein unrealistisches Happy End vorwerfen, aber die Begegnung mit dem echten Saroo Brierley und seiner Geschichte am Ende des Films schließt den Kreis auf sinnvolle Weise. Schön zu hören, dass es offenbar doch noch Wunder gibt. Es dürfte kein Spoiler sein wenn man verrät, dass es am Ende zu einer entscheidenden Begegnung kommt, aber die wurde erfreulich bodenständig und ohne große Gefühlsduselei umgesetzt. Überhaupt gelingt es "Lion" (die Bedeutung dieses Titels wird im Abspann erklärt), seine Bilder und Darsteller oft genug einfach für sich sprechen zu lassen. Und selbst die meisten bekannten Schauspieler (ausgenommen Patel) begnügen sich offenbar damit, Nebenrollen zu spielen. Die wahren Stars des Films sind und bleiben die Nachwuchsdarsteller Pawar und Bharate.
Im Herzen ist "Lion" also ein gutmütiges und stellenweise durchaus auch bewegendes Drama über eine fünfundzwanzigjährige Suche nach den eigenen Wurzeln. Vereinzelt überzieht der Score bestimmte Szenen mit etwas zuviel Drama und auch Saroos wiederholte Visionen und Erinnerungen passen nicht immer so richtig ins Geschehen. Darüber hinaus lohnt sich die investierte Zeit, besonders wenn man sich für die Unwahrscheinlichkeiten des Lebens begeistern kann.