Die schönsten Geschichten schreibt immer noch das Leben selbst – nach dieser Maxime bedient sich Hollywood gern bei „wahren“ Schicksalen, besonders wenn die vorher schon zu einem erfolgreichen Buch verarbeitet wurden. Doch oft versehen die Traumfabrikanten diese Stoffe mit einer Extraportion Rührseligkeit, die den Film verwässert (wie etwa bei „Das Streben nach Glück“) oder ihn vollständig im Kitsch-Sumpf versinken lässt (wie bei „Eat Pray Love“). Eine ähnliche Tendenz war bei der Verfilmung des Bestsellers „Mein langer Weg nach Hause“, in dem der Inder Saroo Brierley seine Lebensgeschichte aufgeschrieben hat, überhaupt nicht auszuschließen: Wenn ein armer kleiner Junge versehentlich mit dem Zug über einen halben Subkontinent fährt, hilflos im fremden Kalkutta landet, ehe er schließlich adoptiert wird und in Australien landet, dann klingt das auf dem Papier durchaus nach erhöhter Schnulzenalarmstufe. Aber Regiedebütant Garth Davis, Drehbuchautor Luke Davies („Life“) und die Produzenten um Harvey Weinstein finden genau die richtige Balance von Geradlinigkeit und Gefühl – und dazu mit „Slumdog Millionär“ Dev Patel sowie dem sechsjährigen Sunny Pawar zwei nahezu perfekte Hauptdarsteller: So wird „Lion“ zu einem bewegenden und tränenreichen Feel-Good-Drama.
1986, irgendwo in der indischen Provinz. Der fünfjährige Saroo (Sunny Pawar) und sein älterer Bruder Guddu (Abhishek Bharate) müssen schon früh die Mutter unterstützen, klauen heimlich Kohle und stromern immer auf der Suche nach etwas Essbarem durch die Gegend. Bei einem ihrer nächtlichen Ausflüge am Bahnhof werden sie getrennt, Saroo schläft in einem leeren Zug ein und wacht 1600 Kilometer entfernt in Kalkutta auf. Er ist orientierungs- und sprachlos, denn weder weiß er wo er ist, noch spricht er Bengali. Mit seinem Hindi-Dialekt kommt er nicht weiter und so irrt er wochenlang durch die Straßen und landet schließlich in einem Heim. Doch diese Kinderverwahrungsstätte ist nur ein kurzer Zwischenstopp: Das australische Paar Sue (Nicole Kidman) und John Brierley (David Wenham) adoptiert ihn und nimmt ihn mit nach Down Under. 25 Jahre später ist Saroo längst vollkommen in der westlichen Welt angekommen und will Hotelmanagement studieren. Doch dann erinnert er sich auf einmal an seine Kindheit: Getrieben von dem Wunsch, etwas über seine Herkunft zu erfahren, sucht er auf Google Earth Indizien über sein Heimatdorf. Die einzigen Anhaltspunkte, die sich ihm eingeprägt haben, sind ein Muster der Schienenverläufe und ein Wasserturm…
„Lion“ ist nicht etwa ein Werbespot für Google Earth, sondern die einfühlsame Erzählung von der aussichtslos erscheinenden Suche eines jungen Mannes nach seiner eigenen Identität. Regisseur Garth Davis, der zuvor als Werbefilmer tätig war, und Kameramann Greig Fraser („Zero Dark Thirty“) finden dafür ganz unterschiedliche, aber immer ausdrucksstarke Bilder: erst die klaustrophobischen Zugszenen und das erdrückende vitale Chaos in der Metropole Kalkutta, dann im Kontrast dazu die Weite Australiens und das gutbürgerliche Leben mit einer fürsorglichen Mutter (eine herzliche Nicole Kidman mit denkwürdiger 80er-Jahre-Frisur), schließlich die fast schon kammerspielartige Suche nach einem kleinen indischen Dorf über Satellitenaufnahmen auf dem Computerbildschirm. Davis lässt die Bilder weitgehend für sich sprechen und verzichtet auch darauf, den Film durch Parallelmontagen oder Rückblenden dramaturgisch aufzuplustern. Er nimmt stattdessen den geraden erzählerischen Weg von einem Leben ins andere und von einem Filmteil in den anderen, was die Gegensätze zwischen den Welten Indiens und Australiens letztlich umso nachhaltiger spürbar werden lässt.
Die erste Stunde des Films gehört dabei ganz dem kleinen Saroo. Der Kinderdarsteller und Newcomer Sunny Pawar spielt sich mit seinen großen braunen Rehaugen, seinen verwuschelten Haaren und dem schlurfenden Schlappengang sofort in die Herzen der Zuschauer. In der zweiten Filmhälfte steht dann der von Dev Patel gespielte junge Mann in der Identitätskrise im Mittelpunkt: Nächtelang sitzt Saroo vor Google-Earth-Ausdrucken und sucht Hinweise auf Bekanntes, angetrieben von dem Gedanken, dass er auf dem anderen Kontinent eine Mutter hat, die ihn vielleicht ebenfalls sucht. Zugleich steckt er tief in einem moralischen Dilemma, denn er will seiner Adoptivmutter nicht wehtun, die ihn großgezogen hat. Patel spielt diesen Konflikt, diese innere Zerrissenheit mit einer fast schon manischen Intensität, seine Getriebenheit lässt sich sogar an der Frisur ablesen - am Ende hat er wirklich fast eine Löwenmähne. Dies ist Patels bisher stärkste Darbietung, vor allem was die emotionale Bandbreite angeht. Im Gegensatz zu ihm bleiben David Wenham („300“, „Die Päpstin“) als Adoptivvater und Rooney Mara („Verblendung“, „Carol“) als Saroos Freundin Lucy weit hinter ihren Fähigkeiten zurück. Was aber vor allem daran liegen dürfte, dass ihre Figuren in erster Linie Stichwortgeber sind, um die Handlung voranzutreiben.
FAZIT: „Lion“ ist herzzerreißendes und aufwühlendes Gefühlskino mit Oscar-Potenzial.