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    Tatort: Am Ende des Flurs
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Tatort: Am Ende des Flurs
    Von Lars-Christian Daniels

    „Come on baby, Franz Leitmayr!“ trällerte der blendend gelaunte Münchner Hauptkommissar (Udo Wachtveitl) 2001 in Jobst Oetzmanns herausragendem „Tatort: Im freien Fall“ zur Melodie des berühmten The Doors-Klassikers „Come on baby, light my fire“ vor dem Spiegel. Er war schwer verliebt, der Franz – in die hübsche Studentin Anne (Jeanette Hain), die ihm zunächst das Leben rettete, schließlich aber selbst das Zeitliche segnete und am Ende einen tieftraurigen Ermittler zurück ließ. Auch im „Tatort: Am Ende des Flurs“ gibt es einen Rückblick auf eine leidenschaftliche Affäre des Kommissars – doch anders als vor dreizehn Jahren dürfte es diesmal nicht Leitmayr, sondern ein großer Teil der Fernsehzuschauer sein, der am Ende nur schwer den Weg in den Schlaf findet. Grimme-Preis-Träger Max Färberböck („Anonyma – Eine Frau in Berlin“), der für den Bayerischen Rundfunk auch beim geplanten „Frankentatort“ Regie führen wird, inszeniert einen handwerklich herausragenden „Tatort“, der mit einem stimmungsvollen Soundtrack unterlegt und bis in die Nebenrollen stark besetzt ist. Der Clou: „Am Ende des Flurs“ gipfelt in einem brutalen, in der Krimireihe bis dato einmaligen Cliffhanger, der am Morgen nach der Erstausstrahlung in den deutschen Büros und Kaffeeküchen vermutlich Gesprächsthema Nr. 1 sein wird.

    Die Münchner Hauptkommissare Ivo Batic (Miroslav Nemec) und Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) müssen eine gemeinsame Jogging-Tour auf halber Strecke abbrechen, weil sie zu einem Tatort gerufen werden: Lisa Brenner (Fanny Risberg) liegt mit einem Glas und einer Champagnerflasche tot vor einem Hochhaus, hinabgestürzt vom Balkon ihrer Wohnung. Mord oder Selbstmord? Die Kommissare, die bei ihren Ermittlungen erstmalig vom jungen Assistenten Kalli Hammermann (Ferdinand Hofer) und der erfahrenen Fallanalytikerin Christine Lerch (Lisa Wagner) unterstützt werden, finden heraus, dass Brenner vor ihrem Tod zahlreiche Männer gedatet hat, die sie nicht nur gut für ihre Liebesdienste bezahlt, sondern auch abgöttisch verehrt haben. Dabei wusste allerdings kein Verehrer von den anderen, und so gibt es gleich ein halbes Dutzend Tatverdächtige: den ehemaligen Hockeystar Mike Hansen (Jürgen Maurer), den Bankangestellten Kevin Lischke (Andreas Lust) und so manchen unbescholtenen Familienvater. Eine erste Spur führt zu Harry Riedeck (Wolfgang Czeczor), einem älteren Mann mit Helfersyndrom, der regelmäßig für Brenner eingekauft hat. Der kennt noch einen weiteren glühenden Ex-Verehrer des Opfers: Franz Leitmayr…

    Die Bombe platzt nach 17 Minuten: „Sie!“, sprudelt es aus Riedeck heraus, als Leitmayr ihn fragt, wen das Mordopfer in den vergangenen Jahren denn so alles getroffen habe. Ihn? Den Kommissar? Tatsächlich: Leitmayr selbst steht in Beziehung zur Toten und ist als Ermittler damit ab sofort untragbar. Kein sonderlich innovativer Drehbucheinfall – doch was Max Färberböck, der das Skript wie schon beim Historiendrama „Anonyma“ und der TV-Komödie „Mein Vater, seine Freunde und das ganz schnelle Geld“ gemeinsam mit Catharina Schuchmann schrieb, aus dieser abgegriffenen Ausgangslage herausholt, ist bemerkenswert. Schon die ersten Krimiminuten lassen erahnen, dass nach den durchwachsenen „Tatort“-Folgen der vergangenen Wochen mal wieder ein echter Hochkaräter auf dem Programm steht:  In einer Rückblende sehen wir das spätere Mordopfer Lisa Brenner, das sich zu den verträumten Klängen von Ketty Lesters „Love Letters“ (die schon David Lynch in seinem Meisterwerk „Blue Velvet“ verwendete) im Hochzeitskleid auf einem weißen Sofa räkelt. Wer dabei Fotos von ihr schießt, bleibt im Dunkeln. In der nächsten Szene befinden wir uns plötzlich im Hier und Jetzt: Brenner prostet mit Champagnerglas in die Kamera, bittet das Publikum auf ihren Balkon – und liegt nach einem harten Schnitt in einer Blutlache auf der Straße.

    Schon zu diesem frühen Zeitpunkt ist der Zuschauer mittendrin statt nur dabei: Färberböck nimmt das Publikum in den Schwitzkasten, lockert den Griff zum Luftholen im Mittelteil und drückt dann in einer atemberaubenden Schlusspointe gnadenlos zu. Vor allem in der zweiten Filmhälfte entwickelt der 910. „Tatort“ einen ungemeinen Sog und lässt den Zuschauer tief in die Abgründe verliebter Männerherzen blicken, die sich an einer einsamen Liebesdienerin reihenweise die Finger verbrannten. Färberböck reißt oberflächlich verheilte Wunden schonungslos auf und steuert auf einen elektrisierenden Showdown zu, der genau dort stattfindet, wo es der Krimititel erahnen lässt: in einem tristen Betonbau mit schäbigen Wohnungen, in denen Verdächtige Tür an Tür wohnen und doch nur wenig voneinander wissen. „Am Ende des Flurs“ überzeugt aber nicht nur auf der Zielgeraden: Auch der zweite Leichenfund, der in einer späteren Rückblende stilsicher aufgegriffen wird, ist einfach großartig inszeniert. Als der Zuschauer bei der Hausdurchsuchung bereits das Schlimmste befürchtet, springt plötzlich ein krähender Rabe ins Bild, der durch ein offenes Fenster den Weg ins blutverschmierte Innere gefunden hat und den grausigen Fund eines bestialisch abgeschlachteten Opfers in bester Hitchcock-Manier erahnen lässt.

    Angesichts von Leitmayrs Suspendierung (die ihn natürlich nicht vom Ermitteln abhält) kommt es Batic gelegen, dass der Münchner „Tatort“ sich über Verstärkung freut: Jungschauspieler Ferdinand Hofer („Dampfnudelblues“) und die vielfach TV-erprobte Lisa Wagner, die für ihre Rolle als Strafverteidigerin im brillanten Münchner „Tatort: Nie wieder frei sein“ den Grimme-Preis gewann, zählen als pfiffig-naiver Assistent Hammermann und toughe Fallanalytikerin Lerch von nun an dauerhaft zum Kernteam. Die Zusammenarbeit wirkt zu Beginn etwas chaotisch: Ähnlich wie Dominik Graf in seinem starken, vom Publikum gescholtenen Münchner „Tatort: Aus der Tiefe der Zeit“ springt Färberbock hastig durch die Szenen und skizziert den hektischen Alltag des neu aus der Taufe gehobenen Teams damit präzise. Das ansprechende Debüt der beiden „Frischlinge“ ist am Ende aber fast Nebensache: Neben Regie und Kamera, Schnitt und Szenenbild, dem Soundtrack mit Waylon Jennings‘ wunderbarer Country-Ballade „Dreaming my dreams with you“ und markantem Lokalkolorit ist auch die Besetzung erste Sahne. Barbara de Koy („Absolute Giganten“) überragt als stille Nachbarin Margot Höllerer ebenso wie Theaterschauspieler und Bundesverdienstkreuz-Träger Franz Xaver Kroetz, der in einem seiner seltenen TV-Engagements als grantelnder Wiesn-Wirt Toni Feistl („Der Mann ist ganz Bayern!“) einen wahnsinnig charismatischen Auftritt hinlegt. Das alles macht unter dem Strich einen bärenstarken Münchner „Tatort“, dessen Schlussviertelstunde das Beste ist, was die Krimireihe seit langer Zeit gesehen hat.

    Fazit: Regisseur und Drehbuchautor Max Färberböck macht im starken „Tatort: Am Ende des Flurs“ die abgegriffene Ausgangslage seiner Geschichte mit einer erstklassigen Inszenierung und einem atemberaubenden Showdown wieder wett. Gesprächsstoff garantiert!

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