Bislang ist wenig bekannt über die Story von „Finding Dory“, der für 2016 angekündigten Fortsetzung zum Animationserfolg „Findet Nemo“ – dass auch Nemos zweites Abenteuer nicht im Magen eines fiesen Raubfisches sondern in einem Happy End gipfelt, steht dabei aber natürlich außer Frage. Erst war geplant, den Titelhelden und seine Freunde in einem Marine Park nach dem Vorbild der amerikanischen SeaWorlds ausspannen zu lassen. In diesen Familienparks vollführen akrobatische Tiertrainer und niedliche Orcas die waghalsigsten Stunts und verzücken damit Jung und Alt. Nachdem man bei Pixar allerdings Gabriela Cowperthwaites aufrüttelnden Dokumentarfilm „Blackfish“ gesehen hatte, wanderte der Entwurf gleich wieder in den Papierkorb. In „Blackfish“ erzählt Cowperthwaite die Geschichte des Orca-Männchens Tilikum, das 1983 vor der Küste Islands eingefangen wurde und seitdem drei SeaWorld-Trainer getötet hat. Todesfälle, für welche die Chefetage wiederholt vor Gericht gezerrt wurde: War bei den völlig artfeindlichen und traumatisierenden Bedingungen, unter denen die Orcas bei SeaWorld gehalten werden, nicht klar, dass es irgendwann so weit kommen musste? Die Firmenleitung verneint das vehement – nur durch das individuelle Versagen unachtsamer Trainer könne es im Umgang mit den friedliebenden Orcas zu derartigen Unfällen kommen. Zwischen zahlreichen Interview- und Archivaufnahmen deckt Cowperthwaite auf, was wirklich hinter diesen Ausflüchten steckt: Tilikum dient dem Konzern gleichermaßen als zugfähige Zirkus-Attraktion und als Samenbank für Orca-Nachschub – der Fang der Tiere in freier Wildbahn ist inzwischen verboten. Die Trainer sind entbehrlich, für Tilikum muss die Show dagegen weitergehen. Ein Konzern schützt seine Interessen und geht dabei über Leichen. Kein Wunder, dass die Disney-Tochter Pixar nicht mit derartigen Geschäftspraktiken in Verbindung gebracht werden will.
Nicht viele Dokumentarfilme schlagen so hohe Wellen, dass sich große Filmschmieden dazu gezwungen sehen, ihre Story-Pläne an ein aufgeklärteres Publikum anzupassen. Das ist beachtlich und erfreulich. Der vielleicht viel größere Verdienst von „Blackfish“ ist aber ein anderer: Indem Cowperthwaite den Film praktisch wie ein Doku-Biopic aufzieht, gesteht sie dem gepeinigten Orca die Würde zu, die ihm bei SeaWorld seit 1983 verweigert wird. Hier geht es nicht um irgendein Tier als Stellvertreter einer Spezies, hier geht es um Tilikum, ein Lebewesen mit einer eigenen Lebens- und Leidensgeschichte. Wir sehen Archivaufnahmen von Tilikums Gefangennahme, von seinem tristen Dasein hinter Gittern, von seinen Show-Auftritten – und von seinen Attacken. Zwischendurch bindet Cowperthwaite immer wieder SeaWorld-Werbevideos ein, in denen sich unter anderen ausgerechnet Darth-Vader-Sprecher James Earl Jones im Namen des Konzerns zum Affen macht. Kontextualisiert werden diese Bilder durch zahlreiche Interviews, in denen ehemalige SeaWorld-Mitarbeiter und sonstige Orca-Spezialisten über Tilikum sprechen und scharfe Kritik an SeaWorld formulieren. Schrittweise lernen wir nebenbei, wie ein artgerechtes Orca-Leben aussieht, um zu verstehen, was bei SeaWorld so falsch läuft.
Ein zentraler Punkt ist dabei, dass Orcas sehr soziale Tiere sind. Die Areale des Gehirns, die für die Emotionalität eines Lebewesens zuständig sind, sind bei kaum einem anderen Säugetier so ausgeprägt wie bei Orcas. Ihre Verhältnisse untereinander sind so komplex wie ihre Sprache. Wie andere Wale und Delphine kommunizieren sie mit einer komplexen Bandbreite von Lauten, die wir kaum begreifen. In einem knappen TV-Schnipsel bringt Whoopi Goldberg es auf den Punkt: „We don’t speak Whale“. Walisch ist tatsächlich so kompliziert, dass auch die Tiere selbst ihre liebe Mühe damit haben: Jedes Rudel bildet ein eigenes „Vokabular“ aus, so dass sich Orcas aus verschiedenen Meeresregionen sprichwörtlich nicht verstehen können, ganz wie Menschen aus verschiedenen Nationen. Genau mit einer solchen Erfahrung der Sprachlosigkeit beginnt auch Tilikums Märtyrium, als er kurz nach seiner Gefangennahme, noch vor seiner Zeit bei SeaWorld, in ein Becken mit zwei fremden und sehr dominanten Orca-Weibchen gesteckt wird. Er hat keine Chance, mit ihnen zu kommunizieren. Dank idiotischer Nahrungsentzüge steigt derweil das Stresslevel der beiden Damen. Schließlich greifen sie ihn an, wieder und wieder zerkratzen sie ihm mit ihren Zähnen den Rücken. Einen Rückzugsraum hat er nicht. Vorerst. Später verbringt er lange Tage in einem desorientierend reizarmen, abgedunkelten Tank.
Unter Menschen nennt man das Isolationshaft und assoziiert es mit Schlagworten wie Guantanamo. Bei SeaWorld spricht man dagegen von artgerechter Haltung. Cowperthwaites Interview-Partner aus dem SeaWorld-Dunstkreis sind diesbezüglich sehr selbstkritisch. Manche machen sich Vorwürfe: Wie konnten sie einem Familienpublikum die ewig gleichen Phrasen vom glücklichen Orca-Leben einhämmern, die SeaWorld säuberlich vorformuliert hatte? Wie konnten sie so naiv sein, Tilikum für einen Freund statt für einen verstörten Gefangenen zu halten? In diesem Zusammenhang wirkt es wie böser Spott, dass die Tilikum-Superstar-Show lange unter dem Titel „Believe“ aufgeführt wurde. Glauben an die Mär vom glücklichen Orca, das fällt schwer, wenn die Fakten so klar gegen die Bekundungen des Konzerns sprechen. Nicht ein einziges Argument spricht dafür, dass die „Zwischenfälle“ auf das Konto der einzelnen Trainer gehen, die oft keinen Schimmer davon haben, unter welchen Bedingungen die Tiere tatsächlich leben. Ein durchaus erhellendes Detail: Es gibt bisher keinen einzigen bestätigten Angriff wilder Orcas auf Menschen, dagegen aber über 100 solcher Übergriffe durch gefangene Orcas.
Kein noch so sensibler Trainer wird das jemals verhindern können. Wenn es mal wieder so weit ist, können die Betroffenen bloß Ruhe bewahren und beten. So zeigt Cowperthwaite etwa unter die Haut gehende Überwachungskamera-Aufnahmen vom lautlosen Überlebenskampf eines Trainers, der von einem Orca an seinem Fuß mehrfach auf den Grund eines tiefen Pools gezogen wird und mit angehaltener Luft so lange still bleibt, bis das Tier von ihm ablässt. Kaum überraschend lautete der SeaWorld-Spin hier: Wer sich richtig verhält, hat nichts zu befürchten. Das ist natürlich grober Unfug, wie andere Beispiele zeigen. Beispielsweise der Fall eines spanischen Top-Trainers, welcher einem von Tilikums nach Europa verkauften Nachfahren zum Opfer fiel. Auch diese Geschichte wurde unter den Teppich gekehrt, so gut es eben ging. Das wird nun dank „Blackfish“ wesentlich schwerer. Dennoch: So lange Heerscharen von sensationsbegeisterten Touristen gutes Geld zahlen, um Tilikum in Aktion zu sehen, wird sich an der zynischen Betriebsphilosophie von SeaWorld und Co. wenig ändern. Der Orca-Sklave wird weiterhin in einem dunklen Beton-Pool vor sich hinvegetieren, einmal alle paar Tage zwecks Bespaßung seines Publikums aus dem Wasser springen und dann irgendwann einen einsamen, traurigen Tod sterben. Dabei gäbe es selbst für ein so verstörtes Lebewesen noch Hoffnung auf einen würdevollen Lebensabend: Ein weitläufig umzäuntes Küstenreservat, in welchem die Tiere in ihrer natürlichen Umwelt altern können, ohne von den Tücken der fremdartigen freien Wildbahn überrumpelt zu werden. In so einem Reservat soll nun übrigens Pixars „Finding Dory“ enden.
Fazit: Gabriele Cowperthwaites hervorragende Dokumentation „Blackfish“ ist ein inspirierendes Plädoyer für einen würdevolleren Umgang mit unseren tierischen Erdenmitbewohnern und eine Anklage gegen eine zynische Abenteuer-Industrie, die weder Tiere noch Menschen respektiert.