Wahnsinnig verliebt
Von Christoph PetersenNoch schnell den Kofferraum checken, ob auch alle Kalaschnikows da sind, und los geht’s. „Beating Hearts“, eine nach Frankreich verlegte Verfilmung des irischen Romans „Jackie Loves Johnser OK?“*, beginnt als knüppelhartes Gangsterkino. Bandenkrieg ist angesagt, aber das Publikum sieht nur die Schatten, die bei jedem Schuss kurz an die Wand geworfen werden. Ohrenbetäubender Lärm, die jungen Männer fallen wie die Fliegen, Kopfschuss, auch der Held des Films ist tot.
Zeitsprung, die späten Achtziger, zurück auf den Schulhof. Schon nach dem ersten Blick ist es um den 17-jährigen Delinquenten Clotaire (Malik Frikah) und die 15-jährige Musterschülerin Jackie (Mallory Wanecque) geschehen. Die dritte Spielfilm-Regiearbeit des französischen Schauspiel-Superstars Gilles Lellouche erzählt die Geschichte ihrer Amour Fou, die das Leben der Figuren in den folgenden anderthalb Jahrzehnten immer wieder auf den Kopf stellen wird.
Seinen letzten Film als Regisseur hat Lellouche 2018 abgeliefert. „Becken voller Männer“ handelt von einem männlichen Synchronschwimm-Team. Das war ganz nett, sah aber so aus, wie solche Komödien halt aussehen. Doch Lellouche hat offenbar nicht nur handwerklich massiv draufgesattelt, er hat in den vergangenen sechs Jahren offenbar auch einen unglaublichen Hunger entwickelt, aus jeder Szene das Maximum an Effekt herauszupressen. Da ist selbst das blutige Schattenspiel zu Beginn nur ein erster Appetithappen.
Kompromisslose Gewaltspitzen stehen hier ganz selbstverständlich neben plötzlichen Musical-Einschüben – und beim ersten Kuss stoppt sogar der Soundtrack, um gemeinsam mit Jackie darauf zu warten, dass Clotaire doch bitte das Kaugummi aus dem Mund nehmen möge. Am Abend, wenn sie das rosafarbene, schön durchgekaute Erinnerungsstück neben ihrem Bett an die Wand klebt, fängt es an zu schlagen wie das Herz auf dem Poster. „Beating Hearts“ wird garantiert nie langweilig.
Ein Mixtape darf in den Achtzigern natürlich auch nicht fehlen – und bildet zugleich den Grundstock für den gnadenlos mitreißenden Soundtrack, „Nothing Compares 2 U“ und ganz viel The Cure. Die Schulhofschwärmerei wirkt so vom ersten Moment an überlebensgroß, und das längst nicht nur wegen der ausladenden, farbintensiven Widescreen-Bilder. Clotaire stiehlt für seine Angehimmelte ihren Lieblingsnachtisch – und zwar gleich kartonweise. Dafür gibt’s eine Standing Ovation von der versammelten Schülerschaft und gute Laune im Kinosaal.
Das hat zunächst was von Highschool-Komödien mit Matthew Broderick („Ferris macht blau“), aber es dauert nicht lange, bis auch Blut fließt – und nicht immer wird Jackies gereichtes Stirnband ausreichen, um es wegzuwischen. Die Chemie zwischen den Nachwuchsstars Mallory Wanecque („The Worst Ones“) und Malik Frikah („Gangs Of Paris“) ist jedenfalls nicht von dieser Welt. Deshalb versteht man auch, dass sich Jackie selbst dann nicht abwendet, wenn Clotaire, der seine Wut nur selten im Griff hat, immer mehr in die Fänge des sich väterlich gebenden Gangsterbosses La Brosse (Benoît Poelvoorde) gerät.
Eine erste Liebe, die nach der Epik eines klassischen Hollywood-Melodrams strebt – und Lellouche gibt inszenatorisch alles, um diesem Ziel so nahe wie möglich zu kommen. Als Bauernopfer seiner Bande muss Clotaire hinter Gittern, und seine Freundin soll ihn auf keinen Fall besuchen. Nach etwa der Hälfte des Films sind die beiden erwachsen, Jackie (nun: Adèle Exarchopoulos, „Blau ist eine warme Farbe“) hat sich auf den Leihwagen-Manager Jeffrey (Vincent Lacoste) eingelassen, Clotaire (nun: François Civil aus „Die drei Musketiere“) will sich an Verrätern von damals rächen. Verwicklungen wie in einem Shakespeare-Stück.
Man weiß ja auch schon, worauf das alles hinausläuft. Wobei es in „Beating Hearts“ eine Sonnenfinsternis gibt (sehr wahrscheinlich die vom 11. August 1999) – und nach einer Sonnenfinsternis ist im Kino (offenbar) alles erlaubt. Gilles Lellouche erlaubt sich also, passend zu seinem visuellen Einfallsreichtum, auch bei der Dramaturgie die eine oder andere Freiheit.
Allerdings wirkt „Beating Hearts“ in den Szenen danach fast ein wenig spießig. Das ist für sich auch gar nicht automatisch etwas Schlechtes, hebt ihn sogar auf überraschende Weise von seinen Genrevorbildern ab. Aber das zuvor über mehr als zwei Stunden fast konstant hochgehaltene Energieniveau sinkt so schon ein Stück vor dem finalen Rollen des Abspanns spürbar ab.
Fazit: „Beating Hearts“ hält, was das Postermotiv verspricht. Ein wild schlagendes Herz von einem Film. Eine epische Liebesgeschichte von der Schulhofschwärmerei bis zum Bandenmassaker, die nicht nur wegen des Hammer-Soundtracks richtig reinknallt. Auf der Zielgeraden der (zu) stolzen Laufzeit von 165 Minuten geht der überlebensgroßen Tragödie allerdings ein wenig die Puste aus. Statt des ganz großen Knalls gibt’s da eher die Boomer-Version von „Bonnie und Clyde“ als Rausschmeißer.
Wir haben „Beating Hearts“ beim Cannes Filmfestival 2024 gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs gezeigt wurde.
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