„Mein Kopf spielt ohne dich nur Bingo“ singt Jonathan Express zu Beginn und am Ende von „Rico, Oskar und die Tieferschatten“ und fassen damit die Welt des Protagonisten Rico bestens zusammen. Das Lied ist die perfekte Klammer für einen wundervollen Kinder- und Jugendfilm, in dem die kleinen Hauptfiguren ungeachtet aller ihrer Macken und Spleens immer ernstgenommen werden: Hier wird mit ihnen gelacht und nicht über sie. Diese Maxime hat sich Regisseurin Neele Leana Vollmar („Maria, ihm schmeckt's nicht!“) bei ihrer Adaption der mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis in der Kategorie Kinderbuch ausgezeichneten Vorlage von Andreas Steinhöfel zu eigen gemacht und lädt ihr Publikum zu einem ebenso warmherzigen wie amüsanten Abenteuer mit Rico und Oskar ein. Dass die Krimi-Geschichte dabei kaum zum Miträtseln geeignet ist, weil die Auflösung nicht nur für geübte „Tatort“-Zuschauer früh auf der Hand liegt, schadet dem Filmerlebnis dann auch kaum.
Der Junge Rico (Anton Petzold) ist „tiefbegabt“. So bezeichnet er sich, weil es in seinem Kopf so durcheinandergeht wie in einer Bingotrommel - und manchmal fällt ein Gedanke raus. Doch Rico ist auch ungemein wissbegierig. In seinem Diktiergerät hält er jedes ihm unbekannte Wort fest, um es später nachzuschlagen. Und er sammelt alles, was er so findet, will wissen, woher es stammt. Eines Tages lernt der mit seiner Mutter Tanja (Karoline Herfurth) in einem Kreuzberger Mehrparteien-Altbau lebende Grundschüler den gleichaltrigen Oskar (Juri Winkler) kennen. Der ist seinerseits hochbegabt und trägt immer und überall einen Helm, weil er genau weiß, wie viele Unfälle es im Jahr gibt. Rico erzählt seinem neuen Freund, dass er sich vor den „Tieferschatten“ fürchtet, mysteriösen Bewegungen, die er Nacht für Nacht in den Fenstern des seit einer Explosion leerstehenden und einsturzgefährdeten Hinterhauses sieht. Doch für eine gemeinsame Erkundung des Phänomens bleibt keine Zeit, denn plötzlich ist Oskar verschwunden und in Rico wächst ein schrecklicher Verdacht: Er fürchtet, dass sein Kumpel das Opfer des Kinderentführers Mr. 2000 geworden ist, der seit einigen Wochen in Berlin sein Unwesen treibt…
Wer von den durchweg von prominenten deutschen Schauspielern (unter anderem David Kross, Milan Peschel, Axel Prahl und Ronald Zehrfeld) gespielten Nachbarn von Rico der „Schnäppchen-Entführer“ ist (so wird der Verbrecher genannt, weil er immer nur 2.000 Euro für die Rückgabe der Kinder verlangt), dürfte den meisten Zuschauern deutlich früher klar sein als dem Hobby-Detektiv Rico, dem die mühsam gesammelten Fakten im entscheidenden Moment immer wieder entfallen. Der Wissensvorsprung schadet aber kaum, denn auch wenn es im Finale ein paar spannende Szenen in der Dunkelheit und eine kurze Verfolgungsjagd gibt, steht die Krimihandlung nie im Fokus des Films. Regisseurin Neele Leana Vollmar („Maria, ihm schmeckt's nicht!“) nimmt sich dagegen viel Zeit, dem Zuschauer ihre Hauptfigur näherzubringen. Wir lernen Rico beim wöchentlichen Senioren-Bingo kennen, es folgen einige wundervolle kleine Alltagsszenen. Da seine Mutter nachts in einem Erotik-Etablissement arbeitet und tagsüber schläft, muss sich der Junge oft alleine beschäftigen. Obwohl er Schwierigkeiten hat, links und rechts zu unterscheiden, geht er dann etwa alleine einkaufen, bewaffnet mit einer Kassette für sein Diktiergerät, auf die seine Mutter den Weg gesprochen hat.
Eine sehr schöne Episode ist auch Ricos Suche nach dem rechtmäßigen Besitzer einer Nudel, die er auf dem Gehweg gefunden hat. Er klingelt an jeder Tür und holt Erkundungen ein, wem wohl diese „Fundnudel“ aus dem Fenster gefallen sein könnte. Vor allem die entwaffnend direkte Art des Jungen begeistert: Da verrät er dem neuen, von Ricos Mutter sichtlich begeisterten Nachbarn gleich mal ganz unbedarft, dass seine Mama ihn, Simon (Ronald Zehrfeld), ihrerseits für die „schärfste Schnitte“ hält, die sie seit langem gesehen hat. Auch die Freundschaft mit Oskar entsteht trotz kleiner Anlaufschwierigkeiten auf völlig selbstverständliche Weise. Als Duo sind die beiden Jungen dann Verbündete gegen jene Erwachsenen, die immer wieder spöttisch auf den Jungen, der langsam denkt, und seinen kleinen Begleiter mit dem Helm auf den Kopf herabschauen. Da werden dem missmutigen Nachbarn Fitzke (Milan Peschel) die Leviten gelesen, dass man sich nicht ohne Respekt behandeln lasse, bloß weil man noch klein sei. Und eine gereizte Eisverkäuferin (Anke Engelke in einem witzigen Gastaufritt) wird mit ihren eigenen Mitteln bloßgestellt und unter dem Beifall anderer Kinder zur Verzweiflung gebracht – eine köstliche Szene, die bereits im ersten Teaser zum Film zu sehen ist.
Dass „Rico, Oskar und die Tieferschatten“ so gut funktioniert, liegt auch an der erstklassigen Besetzung. Neben den passend ausgewählten Jungschauspielern hat man eine illustre Riege erwachsener Darsteller engagiert, in die sich selbst die im deutschen Kinder- und Jugendfilm immer wieder gern genutzten „Gaststars“ gut einfügen (einzige Ausnahme ist hier ein überflüssiger Kurzauftritt von ARD-Erklärbär Checker-Can). Eine besondere Erwähnung verdient sich Karoline Herfurth. Zuletzt noch in „Fack ju Göhte“ als pflichtbewusstes Lehrer-Mauerblümchen Lisi Schnabelstedt zu sehen, beweist sie hier mal wieder ihre Wandlungsfähigkeit. Mit breitem Berliner Akzent gibt sie die taffe alleinerziehende Mutter, die sich die Nächte in einem Erotik-Lokal um die Ohren schlagen muss und mit der Versorgung ihres Sohnes bisweilen fast überfordert zu sein scheint, das alles aber mit bedingungsloser Liebe und unermüdlichem Einsatz wettmacht: Schnell wird offensichtlich, dass Tanja es geschafft hat, ihrem Filius ein unglaubliches Selbstbewusstsein mitzugeben, das es ihm erst möglich macht, trotz seines „Handicaps“ so offen durchs Leben zu laufen.
Fazit: „Rico, Oskar und die Tieferschatten“ ist ein wundervoller Kinderfilm, an dem auch die Erwachsenen viel Spaß haben werden.