Warum sie anfing, Klavier zu spielen, beantwortete Martha Argerich in einem Interview so: Im Kindergarten hatte sie einen Freund, der sie oft neckte, dass sie dies und jenes nicht könne. Sie wollte ihm stets das Gegenteil beweisen. Eines Tages verkündete er, sie könne nicht Klavier spielen. Sie setze sich ans Piano und spielte ein Lied nach, das oft gesungen wurde – nach Gehör und fehlerfrei. Da war sie keine drei Jahre alt. Eine fast banale und dennoch charakteristische Episode im Leben der berühmten, argentinisch-stämmigen Pianistin, die von ihrer jüngsten Tochter Stéphanie Argerich in dem Dokumentarfilm „ Argerich - Bloody Daughter“ porträtiert wird. Entstanden ist ein intimer Einblick in das Leben einer Künstlerfamilie, der berührt und fasziniert.
Stéphanie Argerich ist Tochter einer berühmten Pianistin, „der“ Argerich, die mit 34 zwei Mal geschieden war und drei Kinder hatte. Auch ihr Vater Stephen Kovacevich ist Pianist und Dirigent, Stéphanie lebte aber nie mit beiden zusammen. Die Familienverhältnisse waren kompliziert, teils hippieesk und wenig kontinuierlich. Dafür erlebte die Tochter als Kind, wie ihre Mutter weltweit verehrt wurde und sich dadurch von ihr entfernte. Mit ihrem Film taucht sie in die Vergangenheit und in die Karriere von Martha ein. Er führt sie zu Ex-Partnern, zu Stéphanies Halbgeschwistern und sie folgt der Mutter auf Konzerte und anderen Reisen.
Stéphanie steht im Bann ihrer göttlichen Mutter – „sanft und lähmend", wie sie es nennt. Das sehr spezifische Mutter-Tochter-Verhältnis beschert dem Zuschauer einen sehr aufschlussreichen Blick in das Leben einer Künstlerin, die gleichzeitig Mutter und Partnerin sein wollte. Es gibt Aufnahmen von ihr als junger, umjubelter Nachwuchs-Pianistin, Interviews aus den 70er Jahren und schließlich die Filme, die Stéphanie drehte, nachdem sie von einer Tournee eine Videokamera als Geschenk mitgebracht bekam. Die ausgewogene Mischung des unterschiedlichen Materials bewahrt Stéphanie Argerich davor, einen Film über die eigenen Befindlichkeiten zu machen. Trotz der sehr nahen Kamera – auch das aktuelle Material hat größtenteils Stéphanie Argerich gedreht – und der sehr persönlichen Fragen gerät „Argerich“ nie aufdringlich.
Stéphanie war bereits als kleines Kind mit ihrer Mutter auf Tourneen und erlebte die plötzliche Entfernung, wenn Martha auf der Bühne am Klavier saß. Die Begeisterung der Fans war ihr ein Rätsel, lieber lag sie zuhause unter dem Piano und betrachtete die Füße ihrer Mutter auf dem Pedal. Ihre Halbschwester Lyda, die älteste der Argerich-Töchter, hingegen wuchs gar nicht bei der Mutter auf und hatte nur eine Prokofjew-Aufnahme, die sie als Kind immer wieder hörte, um der Mutter nahe zu sein. Der Übergang von der Mutter zur Künstlerin ist an einer Stelle besonders eindrucksvoll und rätselhaft: Direkt bevor Martha auf die Bühne soll, hat sie keine Lust mehr. Sie fühle sich schlecht und krank. Das Konzert ist dennoch furios, das Publikum begeistert.
Die Musik erhält ausreichend Platz im Film: Immer wieder sind wunderbare Konzertaufnahmen hineingeschnitten, die verdeutlichen, wie sich das Temperament von Martha in ihrem Spiel zeigt. Die totale Hingabe an ein Instrument und die Interpretation der Musik scheinen zumindest ein wenig zu erklären, dass „die Argerich“ nicht für ein konventionelles Leben geschaffen ist. Wenn Martha selbst erzählt, geht es ums Älter werden, um ihr Verhältnis zur Musik und Komponisten und auch um die Vergangenheit: Was löste die Krise aus, als sie 20 war? Warum wurde ihr das Sorgerecht für die älteste Tochter entzogen? Es bewegt sie sichtlich, dass damals einiges aus den Fugen geraten war, doch es kommt ihr auch vor, als rede sie über eine andere Person.
Fazit: „ Argerich - Bloody Daughter“ ist ein gelungener Blick in das Leben einer berühmten Musikerin, der ihre „Göttlichkeit“ nachvollziehbar macht, aber auch die Probleme aufzeigt, die im „normalen“ Leben mit Partner und Kindern auftreten. Bildmaterial aus vielen Jahrzehnten und Aufnahmen von Argerichs Spiel sorgen für ein facettenreiches Bild. Dabei wahrt die Regisseurin, die auch ihre Tochter ist, stets das Gleichgewicht zwischen Nähe und Distanz.