Am Anfang des Films schleppt sich Reese Witherspoon mit letzter Kraft auf einen Gipfel. Die Aussicht ist atemberaubend, aber dafür hat sie kaum einen Blick, denn ihre Füße tun höllisch weh und dann verliert sie auch noch einen Schuh. Schließlich wird es blutig und noch viel schmerzhafter und sie stößt einen erschütternden, in der Weite der Natur jedoch ungehörten Fluch aus. Der kanadische Regisseur Jean-Marc Vallée geht zu Beginn seines Roadmovies „Der große Trip – Wild“ nach dem autobiografischen Buch von Cheryl Strayed gleich in die Vollen und lässt uns diese Extremsituation hautnah miterleben. Erst danach erzählt er uns in Etappen und in Rückblenden, wie die Protagonistin an diesen Punkt gelangt ist und was sie dazu gebracht hat, zu einem Trip über den halben Kontinent aufzubrechen. Dass sie mindestens ebenso sehr eine innere wie eine äußere Reise durchlebt, ist dabei wahrlich keine neue Idee, doch selten wurde sie so sinnfällig in eine filmische Form gebracht wie hier. Und die famose Hauptdarstellerin Reese Witherspoon trägt die Lasten dieses strapaziösen Film mit viel Einsatz und noch mehr Herz auf ihren schmalen Schultern.
Cheryl Strayed (Reese Witherspoon) ist nach der Scheidung von Ehemann Paul (Thomas Sadoski) an einem Tiefpunkt angelangt. Sie will ihr unstetes von Heroinsucht und oberflächlichen Affären geprägtes Leben ändern und begibt sich ohne jede Erfahrung und ohne Begleitung auf eine lange Extremwanderung über den Pacific Crest Trail an der amerikanischen Westküste. Von Kalifornien führt sie ihre Reise über tausende Kilometer bis in den Norden Oregons, dabei gerät die immer wieder von belastenden Erinnerungen an ihre Mutter Bobbi (Laura Dern) geplagte junge Frau an ihre körperlichen und mentalen Grenzen. Sie muss nicht nur mit extremer Hitze und klirrender Kälte zurechtkommen, sondern sich auch mit wilden Tieren herumschlagen und mit unberechenbaren Menschen, die sie unterwegs trifft. Die schwierigste Begegnung ist für Cheryl aber schließlich die Konfrontation mit sich selbst.
Anders als etwa in Sean Penns „Into the Wild“ oder in Danny Boyles „127 Hours“ geht es in „Der große Trip“ nicht um einen Überlebenskampf, zumindest nicht im engeren Sinne. Zwar gerät Cheryl gelegentlich in durchaus brenzlige Situationen (etwa wenn ihr in der Wüste das Wasser ausgeht), aber das Risiko hält sich auf dem vielbewanderten Pfad einigermaßen in Grenzen. Auch ist die Protagonistin keine Aussteigerin, die der Zivilisation den Rücken kehren will, sondern sie hat sich auf der Flucht vor dem, was aus ihrem Leben geworden ist, ziemlich unvorbereitet auf diese Reise begeben. So ist sie mit einem wahren Monstrum von Rucksack unterwegs und es entpuppt sich für die kleine und zierliche Reese Witherspoon (wie man im Abspann sehen kann, ist die echte Cheryl Strayed eine deutlich robustere Erscheinung) schon als herkulischer Kraftakt, das Ungetüm überhaupt allein auf ihren Rücken zu bugsieren. Trekkingerfahrene Zuschauer werden womöglich etwas schmunzeln, wenn sie sehen, was Cheryl alles eingepackt hat und alle anderen bekommen Nachhilfe darin, was wirklich unverzichtbar ist auf einem solchen Trip. Vom Feuermachen und Zeltaufbauen bis zur manchmal seltsamen Kameradschaft unter den sich zufällig begegnenden Wanderern sind die Details der Tour jedenfalls jederzeit stimmig, auch wenn Cheryls Aufstieg von der Anfängerin mit ungeeigneten Schuhen zur „Queen of the Trail“ nur ein Aspekt ihrer Reise ist.
Im Herzen ist „Der große Trip“ die Geschichte einer Frau, die im Clinch mit der Vergangenheit und mit sich selbst liegt. Ihre alten Wunden und Verletzungen werden nach und nach offengelegt: die gescheiterte Ehe und das weiterhin enge Verhältnis zu ihrem Ex-Mann, ihre Flucht in Drogen und Sex sowie vor allem die komplizierte Beziehung zu ihrer Mutter. Mit Hilfe von assoziativ geschnittenen Rückblenden, die zuweilen blitzartig in die Filmgegenwart einbrechen und manchmal nur haarscharf an der symbolischen Überfrachtung vorbeischrammen (Stichwort: Pferdeauge), entsteht das Porträt einer widersprüchlichen und nicht unbedingt sympathischen Frau. Ähnlich wie Matthew McConaugheys Hauptfigur in Jean-Marc Vallées vorigem Film „Dallas Buyers Club“ hat auch Cheryl jede Menge Ecken und Kanten, ihre Schwächen werden wie dort schonungslos, aber dennoch einfühlsam zum Vorschein gebracht. Geradezu niederschmetternd ist etwa ihr herablassendes Verhalten gegenüber der Mutter (warmherzig: Laura Dern) bei einem Gespräch im Auto. Oscar-Preisträgerin Witherspoon („Walk the Line“) lässt hinter der Fassade von Härte und Egoismus eine Mischung aus unterdrückter Wut und Unsicherheit spüren, sie macht aus Cheryl trotz aller Macken eine faszinierende und jederzeit zugängliche Figur. Und das Schönste dabei ist, dass sie keine platten Lektionen lernen muss, sondern bis zum Ende kompliziert bleiben darf - trotz der etwas platten (und wenig feministischen) Glücksverheißung des Finales.
Fazit: Einfühlsames Selbstfindungsdrama in eindrucksvoller Naturkulisse und mit noch eindrucksvollerer Hauptdarstellerin.