Mit der skurrilen Krimigroteske „Das Dorf“ inszenierte Justus von Dohnányi („Bis zum Ellenbogen“) 2011 eine der ausgefallensten und zugleich meistdiskutierten „Tatort“-Folgen aller Zeiten. Der Regisseur und Schauspieler spielte mit Elementen des Film Noir, stellte seinem musiklastigen Krimi einen stilistisch an die populären Edgar Wallace-Verfilmungen erinnernden Vorspann voran, streute surreale Traumsequenzen ein und servierte seinem tumorgepeinigten LKA-Ermittler Felix Murot (Ulrich Tukur) das eigene Gehirn auf einem Silbertablett. Viele Zuschauer konnten mit diesem eigenwilligen Genremix nichts anfangen, bei der ARD klingelte das Beschwerdetelefon unterbrochen. Dabei war das, von der Presse gelobte, mutige Experiment, das auch 2012 für einen Grimme-Preis nominiert wurde, einfach nur großartig. Auch bei Tukurs neuem „Tatort: „Schwindelfrei“ zeichnet von Dohnányi für Regie und Drehbuch verantwortlich, doch sein Krimi fällt diesmal deutlich konventioneller aus: Trotz einer vielversprechenden Ausgangslage und viel buntem Zirkus-Spektakel kommt „Schwindelfrei“ erst spät in Fahrt und bleibt vor allem in der Täterfrage jederzeit vorhersehbar.
Der Wiesbadener LKA-Ermittler Felix Murot (Ulrich Tukur) blüht neu auf: Sein Hirntumor ist weg! Zur Feier des Tages lädt er seine Sekretärin Magda Wächter (Barbara Philipp) nach Fulda ein und besucht mit ihr eine Vorstellung im Zirkus „Raxon“. Im ausverkauften Zelt bittet der Bauchredner Buca (Jevgenij Sitochin) ausgerechnet Murot in die Manege, um vor hunderten Zuschauern ein Lied zu singen. Während der unfreiwilligen Gesangseinlage erhebt sich eine Frau im Publikum, zeigt auf die Bühne und ruft hysterisch: „Das ist er! Lasst ihn nicht entkommen!“ Aber wer ist gemeint? Neben Buca, Murot und den Zirkusmusikern um Pianist Charly (Leonard Carow) befinden sich auch Zirkusdirektor Raxon (Josef Ostendorf), Messerwerfer Frank (Uwe Bohm), dessen Tochter und Assistentin Leja (Lijana Sperlich-Frank), Sängerin Rosalie (Zazie de Paris) und der hünenhafte Ex-Ringer Zoltan (Norbert Heisterkamp) in der Manege. Plötzlich fällt der Strom aus – und als die Lichter wieder angehen, ist die seltsame Zuschauerin verschwunden und Klavierspieler Charly an der Hand verletzt. Am nächsten Tag erfahren Murot und Wächter, dass die Frau seit dem gestrigen Abend vermisst wird. Daher schleust sich der LKA-Ermittler undercover als Aushilfspianist im Zirkus ein...
„Wir leben hier auf einer kleinen einsamen Insel.“, gibt Zirkusdirektor Raxon dem vermeintlichen Profi-Klavierspieler Murot beim Personalgespräch zu Protokoll, und bringt die Ausgangslage des Krimis damit auf den Punkt: Regisseur und Autor Justus von Dohnányi, der 2011 als Schauspieler im Frankfurter „Tatort: Eine bessere Welt“ mit dem Hessischen Fernsehpreis ausgezeichnet wurde, schafft mit dem Zirkus Raxon einen interessanten, wenn auch nicht gänzlich von der Fuldaer Außenwelt abgeriegelten Mikrokosmos – eine bunte, eigene Welt, in der einer der Angestellten ein finsteres Geheimnis verbirgt. Schnell wird klar, dass der/die Täter/in selbst in der Manege auftritt, und pünktlich nach einer Dreiviertelstunde serviert der Filmemacher dem Publikum die zweite Leiche (natürlich die Person, die der Zuschauer bis dato im Verdacht hatte). Als Regisseur leistet von Dohnányi im Zusammenspiel mit dem leinwanderprobten Kameramann Karl-Friedrich Koschnick („Jud Süss – Film ohne Gewissen“) handwerklich erstklassige Arbeit, doch sein Drehbuch unterwirft er diesmal den ungeschriebenen Gesetzen der „Tatort“-Dramaturgie.
Nach der typischen Auftaktleiche, die Murots Augen anders als dem Zuschauer verborgen bleibt, reiht sich in den kargen Wohnwagen der Zirkusangestellten, die fernab der Bühne erwartungsgemäß ein weitaus weniger schillerndes Leben führen, eine Befragung an die nächste, so dass vor allem die alkoholschwangeren Feierabende im Künstlerkreis ein wenig Stimmung ins Geschehen bringen. Überraschende Fallstricke oder doppelte Böden, die dem oft ein wenig verspielt wirkenden Zirkus-„Tatort“ hervorragend zu Gesicht gestanden hätten, bleiben aber aus: Täter und Tatmotiv bilanzieren Wächter und Murot mal eben auf einer halbminütigen Autofahrt zu einer nahegelegenen Baustelle, nachdem die Sekretärin sich am Abend zuvor ihren Laptop aus dem Hotelzimmer stehlen ließ und lieber einen Schlummertrunk mit ihrem Chef einnahm, statt die Spurensicherung zu rufen. Die alles andere als verblüffende Auflösung führt schließlich zurück in die Zeit des Kosovo-Krieges – ein Thema, das im „Tatort“ bei weitem nicht zum ersten Mal behandelt und hier viel zu beiläufig abgefrühstückt wird.
Die humorvollen Undercover-Auftritte als schwarz-weiß kostümierter und geschminkter Pianist, die an Murots berühmte Klavierszene mit den Kessler-Zwillingen in „Das Dorf“ anknüpfen, beschränken sich diesmal zwar auf eine gemeinsame Probe, doch auch ohne spannungstötende Musikintermezzi – die ehemaligen Hamburger „Tatort“-Kommissare Paul Stoever (Manfred Krug) und Peter Brockmöller (Charles Brauer) lassen grüßen – kommt „Schwindelfrei“ erst spät auf Touren. Beim großen Finale in der Manege maskiert sich Murot in bester „James Bond“-Manier als Clown und schleicht sich vor den Augen des lachenden Publikums ins Rampenlicht – genau so, wie es 1983 der entsprechend geschminkte Roger Moore als 007 in „Octopussy“ tat, als er im gleichnamigen Zirkus in letzter Sekunde die tickende Zeitbombe von General Orlov (Steven Berkoff) entschärfte. Trotz der jederzeit geradlinig auf das Finale zusteuernden Dramaturgie und der Zugeständnisse an das öffentlich-rechtliche Gesamtkonzept lässt sich von Dohnányi einen amüsanten Seitenhieb auf den Rest der Krimireihe aber nicht nehmen: Murot schaut den Vorspann der 889. „Tatort“-Folge in seinem Hotelzimmer – und just in dem Moment, als die eigentliche Geschichte beginnt, schaltet der LKA-Ermittler den Fernseher gelangweilt ab und geht lieber mit seiner Sekretärin in den Zirkus.
Fazit: Anders als der Vorgänger „Das Dorf“ ist „Schwindelfrei“ keines der großen „Tatort“-Highlights des Jahres. Trotz eines spannenden Showdowns und reichlich Zirkusnostalgie ist der dritte Fall von Felix Murot sein bisher schwächster, dabei aber immer noch besser als der Durchschnitt.