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    Begegnungen nach Mitternacht
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    Anonymer User
    4,5
    Veröffentlicht am 5. Dezember 2013
    Schon in der Romantik war die Nacht eines der zentralen und bestimmendsten Motive literarischer und bildnerischer Erzählungen und ihre Auswirkungen sind uns durch unzählige Märchen und Sagen überliefert. Wenn der Tag sich dem Ende neigte und nach und nach die Lichter in den Städten und Dörfern gelöscht wurden, legte sich die Nacht über das Land. Es war die Zeit zahlreicher mythischer Figuren, die in der Dunkelheit ihr Unwesen in den Köpfen der Menschen trieben.

    Doch die Motive der Romantik sind auch heute noch aktuell, das beweist Yann Gonzalez mit seinem Debütfilm You and the Night. Gonzalez, der einer größeren Öffentlichkeit bisher wohl eher als Mitglied der französischen Electronic-Dreampop Band M83 bekannt sein dürfte, liefert mit diesem Film ein beeindruckendes Erstlingswerk ab. Zum Film hat er jedoch nicht erst seit kurzem gefunden, denn neben seiner musikalischen Tätigkeit ist Gonzalez auch langjähriger Filmkritiker und Regisseur mehrerer gefeierter Kurzfilme. Um uns an You and the Night heranzutasten, lohnt sich ein Blick auf sein bisheriges Œuvre. Sein dominierendes Thema in Wir werden nie mehr alleine sein und in Land of Dreams ist das Gefühl der Einsamkeit, des Verlassenwerdens und zu einem gewissen Grad auch die Selbstfindung der Protagonisten.
    In seinem neuen Langfilm ist es nicht anders: Matthias (Niels Schneider), ein Jüngling, dessen griechisch-mythologische Ausstrahlung nur von einer schwarzen Augenklappe gestört wird, fühlt sich schwach und liegt in den Armen seiner Freundin Ali (Kate Moran). Seine Lebensgeister beginnen zu schwinden und es scheint schnell klar, was zu tun ist. Udo (Nicolas Maury), das Hausmädchen, eilt herbei und beginnt Matthias zu befriedigen. Der Startschuss zu einer denkwürdigen Nacht. Die Drei begeben sich zu einem tristen Wohnblock und finden sich kurze Zeit später in einer mondän-elegant eingerichteten Wohnung wieder, die so gar nichts mit ihrer Außenfassade zu tun hat. Damit ist die Richtung vorgegeben, der Zuschauer begibt sich auf eine Reise hinein in das Innerste, das Herz, die Seele und die Libido der Protagonisten. Dort wird er in den kommenden 90 Minuten eine große Diversität an Geschichten, Schicksalen und Sehnsüchten zu sehen bekommen, denn es bleibt nicht bei dieser kleinen verschworenen Gemeinschaft aus Matthias, Ali und Udo - Die Drei erwarten Besuch. Ein Gast nach dem anderen klingelt und stellt sich höflich durch die Tür vor: Der Star, der Teenager, die Schlampe und der Hengst. Prominent besetzt mit dem ehemaligen Fussballer Eric Cantona, dem französischen Altstar Fabienne Babe, Julie Brémond aus Land of Dreams und Alain Delons Sohn Alain Fabien Delon.

    Ali soll in dieser Nacht ihren Spaß haben und ihrer Sexualität ungezügelt nachgeben können, denn dies braucht sie, um Matthias weiter lieben zu können, und dieser braucht Alis Liebe, um zu überleben. Udo, das Hausmädchen, gibt die charmante und fürsorgliche Gastgeberin, sodass der folgenden Orgie eigentlich nichts mehr im Weg stehen kann. Doch die Gäste scheitern schon bei der ersten Annäherung, denn scheinbar gibt es doch noch etwas wichtigeres als Sex: die Geschichten der einzelnen Individuen. In elegant eingebauten Rückblenden erzählt Gonzalez nun die Beweggründe der einzelnen Gäste, an diesem Abend hierherzukommen, um sich Ali und Matthias hinzugeben. Der von zu Hause fortgelaufene Teenager, der Hengst, dessen Beiname von seinem riesigen Gemächt herrührt, das ein Segen und ein Fluch zugleich ist, die Schlampe, die sich nicht an die Spielregeln halten will und gleich jemanden im Badezimmer verführen möchte, und der Star, der ganz eigene Spielregeln aufstellt, denen sich die Anderen aber nicht beugen wollen. Dabei schwanken die erzählten Geschichten zwischen einer halsbrecherischen Skurrilität und erdrückender Melancholie.

    In den Flashbacks entfaltet sich die volle cineastische Schöpferkraft Gonzalez‘. Er arbeitet etwa mit abstrahierter Bildsprache im Stile Lars von Triers Dogville. Exemplarisch zu sehen, wenn der Hengst erzählt, wie er beinahe davon abgehalten wurde, rechtzeitig zu erscheinen, da er sich in einem Gefängnis befunden hat und die dort herrschende russisch-anmutende Gefängniswärterin ihn als wehrloses Opfer in ein Peitschen-Rollenspiel gedrängt hat, in welchem sie nach kurzer Zeit aber lieber selbst den submissiven Part übernehmen wollte – und das alles nur wegen seines enormen Penis‘ (bei dem sich das große Engagement des Maskenbildners zeigt). Oder aber er bedient sich einer Filmsprache zwischen erstarrten Busby Berkeley-Choreographien und Performancekunst á la Marina Abramovic, wenn die Schlampe von ihren Fantasien erzählt und sich durch nie enden wollende Räume voller nackter Männer bewegt. Die Geschichte um Ali und Matthias zeugt von den großen Stummfilmvorbildern, deren Gonzalez sich hier annimmt, angefangen bei F.W. Murnaus Nosferatu aus den 1920er Jahren bis zu den Horrorklassikern der britischen Hammerstudios. All dies exzellent inszeniert vor flächig wirkenden Kulissen, aufgemalten Landschaftshintergründen oder Rückprojektionen. Die Geschichte rund um Udo, die eine geheimnisvolle Vergangenheit in sich trägt, ist voller Andeutungen auf Victor Sjöströms Fuhrmann des Todes und auf Klassiker aus der Weimarer Republik. Die Versuche der Presse, Gonzalez in die Richtung filmischer Vorbilder eines Pedro Almodovar oder François Ozon zu rücken, können bei all diesen filmischen Spielereien auch nicht geleugnet werden. Irgendwo zwischen der gewollten sprachlichen Redundanz eines Godard, die sich in diesem Falle auf die volle Bandbreite vulgärer Handlungen sowie expliziter Sexpraktiken beschränkt, und den Urmotiven der Romantik und ausgestelltem Kitsch suchen all die Charaktere, die hier in einer Art The Breakfast Club für Erwachsene zusammenkommen, nach ihrer eigenen Identität und einem Ausweg aus ihrer wahrscheinlich selbstverschuldeten Melancholie. Zum eigentlichen sexuellen Akt an sich scheint es gar nicht zu kommen. Die Gäste warten offensichtlich auf das Ende der Nacht, auf den Morgen nach der so lang anhaltenden Dunkelheit und damit auf die ersten Sonnenstrahlen, die alles vielleicht wieder in ein anderes Licht tauchen werden. Und über alldem schwebt die sphärisch-elegische Musik von M83, auch als der Morgen anbricht – schönere Momente gibt es im Kino selten zu sehen.

    You and the Night ist der Film eines Regisseurs, der sich seiner filmischen Vorbilder bewusst ist, dabei aber eine gänzlich eigene filmische Realität und Ästhetik schafft und mit dieser Melange aus verzweifelter, aber auch teils verhinderter Romantik ein episch-anmutendes Filmkunstwerk geschaffen hat.

    Einer der größten Tipps für das nächste Kinojahr.
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