Eine Kriminalgeschichte in einer Großstadt, ein halbes Dutzend bekannter Gesichter, die Polizei auf der einen und das Verbrechen auf der anderen Seite: Auf dem Papier könnte man Philipp Leinemanns „Wir waren Könige“ glatt für einen von vielen (oft austauschbaren) TV-Krimis halten, die beim deutschen Fernsehpublikum nach wie vor hoch in der Gunst stehen. Doch weit gefehlt: „Wir waren Könige“, der auf dem Filmfest München 2014 seine Weltpremiere feierte, ist bei weitem keine harmlose öffentlich-rechtliche Krimi-Unterhaltung, sondern ein beinhartes, stellenweise überraschend brutales Gangster-Movie, in dem die Grenzen zwischen Gut und Böse verwischen. Das ZDF und arte haben bei der Produktion zwar ihre Finger im Spiel, doch landet „Wir waren Könige“ erfreulicherweise zunächst mal genau dort, wo der Film hingehört: auf der großen Leinwand. Leinemann liefert aufwühlende, stimmungsvolle Bilder, die dem Publikum schon nach wenigen Sekunden den Atem stocken lassen und es nach dem Abspann mit einem beklemmenden Gefühl auf den (plötzlich gar nicht mehr so sicher scheinenden) Nachhauseweg schicken.
In einer namenlosen Stadt in Sachsen-Anhalt stürmt ein Sondereinsatzkommando der Polizei eine Wohnung, die drei Kriminellen als Hauptquartier dient. Der vermeintliche Routineeinsatz endet im Desaster: Beim Zugriff werden zwei Verbrecher erschossen, ein dritter kann fliehen. Und einer der SEK-Beamten wird bei der schlecht koordinierten Aktion so schwer verletzt, dass die Ärzte im Krankenhaus um sein Leben ringen. Für die Gruppenleiter Kevin (Ronald Zehrfeld) und Mendes (Misel Maticevic), deren Einheit ohnehin unter besonderer Beobachtung ihres argwöhnischen Vorgesetzten Harthmann (Thomas Thieme) steht, markiert diese Eskalation einen neuen Höhepunkt der Gewalt, die ihnen seit Jahren immer mehr entgegenschlägt. Als im Zuge der Ermittlungen gegen zwei Jugendbanden auch noch zwei Kollegen aus der Truppe erschossen werden, gerät die Situation außer Kontrolle – und ausgerechnet der kleine Nasim (Mohammed Issa), der bei den verfeindeten Bandenanführern Thorsten (Tilman Strauss) und Jacek (Frederick Lau) verzweifelt um Anerkennung ringt, gerät zwischen alle Fronten...
„Wir sind das, was ihr am Computer spielt!“ prangt es in großen Lettern von einem Zettel an der ansonsten kahlen Wand des SEK-Besprechungszimmers. Der Zettel lügt nicht: Die Einheit von Kevin und Mendes kämpft und ballert in vorderster Front, trifft bei ihren Einsätzen auf schießwütige Drogendealer und prügelnde Jugendbanden und hält den Adrenalinspiegel stets auf höchstem Niveau. Der steigt auch beim Zuschauer schon nach Sekunden: Ohne jede Einleitung wirft Regisseur und Drehbuchautor Philipp Leinemann („Transit“) sein Publikum ins bleihaltige Geschehen und lässt ihn hautnah miterleben, wie ein schlecht geplanter Einsatz schnell aus dem Ruder laufen kann. Anders als beim Zocken auf der Konsole, auf der man jederzeit Pause drücken oder das Level noch einmal spielen kann, haben die Fehler der Protagonisten hier allerdings schlimme Folgen. Der Ego-Shooter-Vergleich ist noch in einer anderen Hinsicht interessant: Auch die SEK-Beamten schlagen in den folgenden eineinhalb Stunden zunehmend über die Stränge und werden für ihre Eskapaden vom Gesetz nicht belangt – ganz wie Könige eben. Und ganz wie der Computerspieler, der sich in den virtuellen Welten von „GTA“, „Halo“ & Co. nach Herzenslust austoben kann.
Die kalten, kraftvollen Bilder, die Kameramann Christian Stangassinger („Apele tac“) in der winterlichen Großstadt einfängt, kommen auf der Leinwand perfekt zur Geltung: Vor modernen Action-Produktionen aus der Traumfabrik Hollywood muss sich „Wir waren Könige“ schon rein technisch nicht verstecken. Leinemanns Film ist aber keineswegs ein substanzloses Actiongewitter, sondern vielmehr ein atmosphärisch dichter Cop-Thriller mit Herz: Es ist der kleine Nasim, der die anonyme Parallelwelt in der Realität erdet und zugleich zur Schlüsselfigur des Films wird. Warum er den recht studentenhaft wirkenden Gangleader Thorsten auf Teufel komm raus mit illegalen Aktionen, teuren Geschenken und peinlichem Gangster-Gehabe beeindrucken will, bleibt allerdings offen – hier hätte die Figurenzeichnung noch etwas mehr Tiefgang vertragen. Über Nasim erfährt man kaum mehr, als dass er der Sohn eines strengen Supermarktbesitzers ist. Die etwas halbgar wirkende Beziehungskiste zwischen Thorsten und seiner Freundin Sandra (Katharina Heyer, „Unter Nachbarn“) hingegen hätte durchaus gestrichen werden können – voranbringen tut sie den Film kaum, und zum rauen Klima auf der Straße will dieser Nebenkriegsschauplatz auch nicht recht passen.
Bei der Besetzung wird sich keine Blöße gegeben: Newcomer Mohammed Issa überzeugt als naiver Nachwuchsgangster ebenso wie seine profilierteren Kollegen Roland Zehrfeld („Im Angesicht des Verbrechens“) und Misel Maticevic („Im Schatten“) in der Rolle der zwischen Gesetzestreue und finsteren Rachegelüsten hin- und hergerissenen Gruppenleiter. Charakterkopf Thomas Thieme („Das Leben der Anderen“) gibt souverän den opportunistischen Vorgesetzten, während Samia Muriel Chancrin („Lose Your Head“) als verängstigte SEK-Beamtin Nadine den letzten moralischen Fels in der Brandung bildet. Auch die übrigen Teamkollegen definieren sich in erster Linie über ihr Verhalten im Einsatz – was aber gut zum knallharten Hetzjagd-Szenario passt, in der der Einzelne nichts und das Team alles bedeutet. Immer schneller dreht sich die Spirale der Gewalt, bis ein brutaler Racheakt den nächsten jagt und die Grenzen zwischen Richtig und Falsch in einer düsteren Grauzone verschwimmen. Die Schlusseinstellung des Films – das Foto einer Geburtstagsfeier, auf dem es ein groteskes Detail zu entdecken gibt – bildet dabei den beklemmenden Schlusspunkt eines aufwühlenden Thrillers, in dem Selbstjustiz und Rachegedanken den Polizei-Alltag prägen und sich niemand seiner eigenen Haut sicher sein kann.
Fazit: Philipp Leinemann liefert mit „Wir waren Könige“ einen hochspannenden Thriller, der unbedingt ins Kino gehört.