... am Sessel festgebunden, geknebelt, gezwungen, diesen Film, anzuschauen, sozusagen bordergeleimt, dem Verfolgungswahn preisgegeben ... The sixth episode in a cab in cold Switzerland, cutted off ... by Jarmusch. „There's a blue eyed girl with a red bow tie and a string of pearls with one good eye in a rainy town the chimney smoke will curl, no one likes clowns on the other side of the world and the children know she'll never let me go.“ (1)
Nacht. Jeder der von Jim Jarmusch aufgesuchten Orte bietet uns eine spezifische, wie man so schön sagt: landesübliche Atmosphäre. Heimat zentriert sich in den fünf Episoden dieses Nachtfilms in fünf Taxen, aber nur flüchtig. Sie sind kurzzeitiger Treffpunkt ganz verschiedener Menschen – vor dem Steuer und auf dem Rücksitz. Und doch verbindet alle eine Tragikomik des Geschehens auf engstem Raum. Das Taxi wird zum Brennpunkt unausgesprochener, wenn auch angesprochener menschlicher Konflikte. Fremde treffen aufeinander, mehr oder weniger zufällig. Als sie auseinander gehen, hat sich etwas verändert. Aber hat sich auch für sie etwas verändert?
Die Casting-Agentin Victoria (Gena Rowlands), blond gebleicht, im schicken schwarz-weißen Allerweltskostüm, stets im Stress, am Handy hängend, am Verhandeln, trifft auf die lässige, Kaugummi kauende oder rauchende, gar nicht „schick“, dafür aber interessant aussehende Taxifahrerin Corky (Winona Ryder). Das Wort „Shit“ bringt die beiden Frauen auf dem Flugplatz von Los Angeles zusammen. Die Fahrt geht nach Beverly Hills. Und was die Klischee-Dame nie erwartet hätte, trifft ein: Corky lehnt ihr Angebot, zum Film zu gehen, rundweg ab. Corky hat ein sehr konkretes, handhabbares, nahes und realisierbares Ziel. Sie will Automechanikerin werden. Das Verbrauchte, Einsame, Benutzte konterkariert Jarmusch mit dem Lebensnahen, Lebendigen, Aufmerksamen, Frischen.
„There's a one legged priest that tangos with the farmers wife. Beauty and the beast is taking her own life and a tear on a letter back home turns into a lake of your own and a crow turns into a girl on the other side of the world and she tastes like the sea and she's waiting for me in the spring the weeds will show that he brought back the only rose and he gave it to his girl on the other side of the world. And I drink champagne from your thin blue veins.“ (1)
Auch in New York sind die Straßen des nachts verlassen. YoYo (Giancarlo Esposito) sucht verzweifelt ein Taxi. Keines hält. Und als einer der Fahrer stoppt und hört, YoYo wolle nach Brooklyn, sucht er das Weite. Bis ein stotternd herannahendes Taxi hält und YoYo am Ziel seiner Träume – jedenfalls für heute Nacht – zu sein scheint. Am Steuer sitzt Helmut (Armin Müller-Stahl), der kaum englisch spricht, geschweige denn Autofahren kann – obwohl das Taxi mit Automatik ausgestattet ist. YoYo glaubt seinen Augen nicht zu trauen und kurzerhand lässt er sich von Helmut das Steuer übergeben, schaltet den Taxometer ein – was Helmut ebenfalls vergessen hatte. Beide tragen Mützen mit Ohrenschützern, streiten darüber, welche moderner sei und machen sich gegenseitig über ihre Vornamen lustig. Das heißt, sie kommen sich näher – der schwarze Brooklyn-Typ mit Herz und Helmut, der Ex-Clown aus der DDR. Und last but not least Angela (Rosie Perez), YoYos Schwägerin, die sich offenbar rumtreibt, kaum mehr Worte spricht, sprich: flucht als „fuck you“ und die YoYo ins Taxi zerrt. Aus dem Zusammentreffen dieser drei Personen gewinnt die Episode an Komik, die kaum zu übertreffen ist. Die Schwächen der einzelnen verschmelzen zu einer völlig neuen Mischung, an deren „Siedepunkt“ so etwas wie Zuneigung und Freundschaft stehen könnte. Die Lebensumstände allerdings treiben die drei wieder auseinander.
Der französische aus der Elfenbeinküste stammende Taxifahrer (Isaach de Bankolé) schmeißt in den Straßen von Paris zwei „Landsleute“, die sich über ihn lustig machen kurzerhand hinaus. Allerdings ärgert er sich, vor Wut über die beiden Diplomaten nicht abkassiert zu haben. Eine blinde junge Frau (Béatrice Dalle), denkt er, wird ihm keine Schwierigkeiten machen. Die allerdings weiß genau, was sie will. Sie erregt das intensive Interesse des Mannes vor ihr am Steuer. Immer wieder schaut er in den Rückspiegel, fragt sie, manchmal leicht aggressiv, z.B. ob es nicht ein großer Nachteil sei, blind zu sein. Die Blinde bietet ihm Paroli. „Sie können doch nicht Autofahren“, kontert sie mit: „Sie etwa?“. Wie wahr, erweist sich am Schluss der Episode.
Der geschwätzige römische Taxifahrer (Roberto Benigni) rast durch die Straßen der ewigen Stadt, und aus Langeweile macht er seine Witze. Eine große dunkle Sonnenbrille ziert sein Gesicht. Auch die trägt er eher aus Langeweile, vielleicht um den Nervenkitzel der Fahrt im Dunkeln etwas zu steigern. Den Taxifunk quittiert er mit sexuellen Anspielungen. Dann erhält er den Auftrag, einen Priester abzuholen, der an einem Brunnen wartet. Auch den muss er verulken. Kaum eingestiegen, verhöhnt er ihn mit seinen Jugendsünden, dass er seinen ersten Sex mit einem Kürbis und einem Schaf gehabt habe; nun erhoffe er von ihm, den er ständig Bischof tituliert, Vergebung. Auf den Priester selbst, der schwer herzkrank ist und schließlich mit dem Tod ringt, achtet er nicht.
Dieses groteske Wechselbad zwischen unachtsamem, vom Komischen ins Hämische, ins fast schon Verachtende wechselnden Spott hier und dem Todeskampf des schweigenden Priesters dort lässt schon bald den Wunsch aufkommen, der Priester solle leben und der Taxifahrer möge für immer den Mund schließen.
In der letzten Episode nimmt Mika, Taxifahrer im winterlichen Helsinki (Matti Pellonpää), drei betrunkene Fahrgäste auf. Während einer der drei völlig weggetreten ist, erzählen die anderen beiden Mika, ihr Kumpel habe seine Arbeit verloren, sein neues Auto sei von einem Unbekannten zu Schrott gefahren worden, seine minderjährige Tochter sei schwanger und seine Frau wolle ihn verlassen. Mika reagiert mit den Worten: „Es könnte schlimmer sein“, und meint damit seine eigene Situation und die seiner Frau. Beide haben ihr neu geborenes Mädchen nach drei Wochen verloren. Frühgeburt. Die beiden Fahrgäste hören zu, sind betroffen, ihnen stehen Tränen in den Augen. Sie versuchen Mika zu trösten.
„She visits his grave wearing her mother's shawl should I shave or end it all. There's an old sailor song that the children know as their fingers curl around the other side of the world on a bone white mare lost in Kathleen's hair in the spring the weeds will show that he brought back the only rose and he gave it to his girl on the other side of the world.“ (1)
Jarmusch gelingt es, durch wenige, meist aus dem Stand fotografierte Bilder die unterschiedliche Atmosphäre der fünf Städte einzufangen, in denen es Menschen, die im Taxi zusammen kommen, nur zeitweise und mehr oder weniger bruchstückhaft gelingt, eine gemeinsame Sprache zu sprechen. Helmut wird durch YoYo einen Moment lang begeistert von einer Stadt wie New York, doch als YoYo und Angela ausgestiegen sind, scheint er alles wieder vergessen zu haben. Der Pariser Taxifahrer ist neugierig auf die blinde Frau in seinem Wagen, aber er kann diese Neugierde nicht befriedigen, weil er sich selbst dabei im Weg steht, die falschen Fragen stellt und die Antworten nicht begreift. Der römische Kollege hat überhaupt kein Gespür für seinen Fahrgast. Der Casting-Agentin in Los Angeles erscheint es fast wie ein Alptraum, dass die Taxifahrerin ihr Angebot ablehnt. Und der finnische Taxifahrer stellt seine eigene missliche persönliche Situation wertend über die eines seiner Fahrgäste. Das Verständnis bleibt wenn überhaupt vage, flüchtig, wenn auch YoYo in New York ein Mensch ist, der ein großes Herz zu haben scheint.
Das Taxi wird an fünf Orten der Welt für einige Minuten zu einem Leuchtpunkt, obwohl man nicht weiß, woher die Figuren kommen und wohin sie gehen werden, wenn sie das Taxi verlassen. Es bleibt der Phantasie des Betrachters überlassen, die Geschichten weiter zu erzählen, darüber zu phantasieren, was vorher war und nachher sein wird. Was treibt beispielsweise die blinde Frau des nachts auf die Straße und an eine einsame Stelle irgendwo an der Seine? Ist sie über irgend etwas oder irgend jemand wütend? Was wird der betrunkene Fahrgast in Helsinki mit seinen kleinen und größeren Problemen anfangen, als Mika ihn vor seiner Wohnung absetzt? Wie werden Mika und seine Frau mit dem Tod ihrer kleinen Tochter fertig? Wird der Tod des Priesters das Lebens des geschwätzigen römischen Taxifahrers verändern? Jarmusch lässt seine Figuren wieder allein und uns allein mit diesen Fragen.
„Night on Earth“ regt dazu an, Geschichten weiter zu denken. Denn Jarmusch lässt diese Fragen bewusst offen. Ihn interessiert die Situation in der Enge von fünf Taxis – irgendwo.
(1) Musik von Tom Waits für „Night on Earth“.