Unter dem Label „Le Mystère des Voix Bulgares" reisten sie in den achtziger Jahren in opulenten Trachtenröcken durch die Welt: die Frauen des staatlichen bulgarischen Rundfunkchors. Im Westen wurden die stimmgewaltigen Slawinnen bewundert und bestaunt, die Musikgiganten Universal und Warner Brothers verdienten viel Geld mit ihnen. Entdeckt wurde das Geheimnis dieser Stimmen bereits von dem Schweizer Marcel Cellier - ein Musikenthusiast und –sammler, der bereits 1975 eine Auswahl von Stücken unter dem Titel „Le Mystère des Voix Bulgares" auf seinem eigenen kleinen Label veröffentlicht hatte, ohne dass die Welt Notiz davon genommen hätte. Für seinen neuen Film „Balkan Melodie" hat der profilierte Musikfilmspezialist Stefan Schwietert („Heimatklänge") sich aufgemacht, hinter das Geheimnis von Marcel Cellier, der mehrere außergewöhnliche Künstler entdeckt hat, zu kommen. Dafür hat Schwietert nicht nur Cellier selbst und dessen Frau Catherine aufgesucht, sondern auch einige der Musiker, denen der Entdecker einst zu Berühmtheit verhalf. Aus neuen Interviews und Archivmaterial ist ein facettenreicher, komplexer Dokumentarfilm entstanden, der manchmal vor Materialfülle geradezu zu bersten scheint. Wahrscheinlich wäre es deutlich einfacher gewesen, mehrere Filme daraus zu machen.
Marcel Cellier, selbst ein begabter Musiker, wurde von den Eltern gezwungen, eine Ingenieurslaufbahn einzuschlagen. Neben seinem Brotberuf ging Cellier daher leidenschaftlich einem außergewöhnlichen Hobby nach: dem Sammeln von Musik. Seit jeher war der Schweizer dabei von der Volksmusik Osteuropas fasziniert. Schon in den fünfziger Jahren unternahm er regelmäßig Reisen hinter den Eisernen Vorhang und investierte früh in eine professionelle Tonausrüstung, um interessante Ensembles aufnehmen zu können. Auf diese Weise verhalf er dem rumänischen Panflötenvirtuosen Gheorghe Zamfir zum Durchbruch im Westen. Beide spielten eine Zeitlang sogar sehr erfolgreich im Duo, Zamfir auf der Panflöte, Cellier auf der Orgel, und unternahmen weltweit zusammen Konzertreisen. Wunderbare Aufnahmen aus dem privaten Archiv der Celliers sind im Film zu sehen, die von Zeiten echter Freundschaft erzählen, darunter eine zauberische kleine Szene, in der Zamfir im Cellierschen Garten mit der Flöte den Gesang der Schweizer Amseln imitiert. Bald danach war die Beziehung zerrüttet, weil Zamfir immer mehr Geld wollte. Der Kommunismus habe das aus den Menschen gemacht, seufzt Catherine Cellier traurig. Diese Leute hätten ihn ausgenutzt, wettert dagegen der alte Mann, den Stefan Schwietert in Rumänien aufgesucht hat, wo er jungen Menschen mit diktatorischem Gestus das Panflötenspiel beibiegt.
„Balkan Melodie" hat eine Themenvielfalt für mindestens zwei oder drei Filme - zum einen ein Porträt des musikverrückten, bescheidenen, sympathischen Marcel Cellier, zum anderen eine Porträtreihe der bedeutendsten Musiker, die er entdeckt hat. Zusätzlich kann Schwieterts Dokumentation als filmisches Essay über die politische Instrumentalisierung der Volksmusik in den sozialistischen Staaten Osteuropas gesehen werden. Der Regisseur stellt dann auch, programmatisch zum Schluss, die rumänische Roma-Band Mahala Rai Banda vor. Diese Formation lässt mit ihrem Gypsy-Pop den oft schon künstlich wirkenden Traditionalismus der Volksmusik, wie sie unter dem Kommunismus gepflegt wurde, weit hinter sich. Zum einen gehen Mahala Rai Banda zurück zu den Wurzeln musikalischer Darbietung, spielen nicht nur auf der Konzertbühne, sondern auch auf Dorffesten und Hochzeiten, zum anderen bedienen die Musiker lustvoll und kreativ ein Crossover-Prinzip, das eine musikalische Brücke in die Gegenwart und, vor allem, in die Welt da draußen schlägt. Obwohl der Film ohne jeden Off-Kommentar auskommt, versteht man die Botschaft deutlich: Diese Art, Musik zu machen, also das Gegenteil des musikalisch-patriotischen Traditionalismus des ehemaligen Weltmusikers Gheorghe Zamfir, ist die Zukunft. Stefan Schwietert gelingt es mit seinem so klug wie assoziativ komponierten Film, ein paar erstaunlich tiefe Einblicke in einen sehr komplexen Themenbereich zu geben, der von Westen aus immer noch reichlich exotisch wirkt. Allerdings ist das Thema dabei so weit gefasst, dass diese Einblicke notwendigerweise punktuell bleiben müssen.
Fazit: „Balkan Melodie" ist ein klug durchdachter und wunderschön geschnittener Film über den Schweizer Musiksammler Marcel Cellier, die Volksmusik Osteuropas und ausgewählte Musiker, die von Cellier entdeckt wurden. Trotz aller Souveränität in der Komposition ist dem Film häufig eine gewisse Anstrengung angesichts der Bewältigung der übergroßen Materialfülle anzumerken.