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    Le Passé - Das Vergangene
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Le Passé - Das Vergangene
    Von Carsten Baumgardt

    Mit seinem brillanten Drama „Nader und Simin - Eine Trennung“ wurde der iranische Regisseur Asghar Farhadi im Jahr 2011/2012 zum neuen Superstar des anspruchsvollen Weltkinos. Das schmerzhafte Porträt einer auseinanderbrechenden Teheraner Familie gewann unzählige Auszeichnungen, darunter den Oscar für den Besten nicht-englischsprachigen Film und einen Goldenen Bären bei der Berlinale. Mit seinem folgenden Werk „Le Passé - Das Vergangene“ bestätigt der Regisseur seine Klasse. Farhadis erster nicht im Iran, sondern in Frankreich gedrehter Film ist ein weiteres herausragendes und hochkomplexes Familien-Drama. Bei den 66. Filmfestspielen in Cannes 2013 gehörte der Film über ein Liebesdreieck und seine tragischen Verstrickungen zu den absoluten Höhepunkten, dafür sorgten neben der raffinierten Dramaturgie vor allem die bemerkenswerten Schauspieler, die der konfliktgeladenen Geschichte jederzeit emotionale Wahrhaftigkeit verleihen - Bérénice Bejo („The Artist“) wurde an der Croisette hochverdient als Beste Darstellerin ausgezeichnet.

    Nach vier Jahren der Trennung kehrt Ahmad (Ali Mosaffa) von Teheran nach Paris zurück, um von seiner Noch-Ehefrau Marie (Bérénice Bejo) geschieden zu werden. Die Apothekerin lebt inzwischen mit dem Wäschereibetreiber Samir (Tahar Rahim) zusammen. Die beiden wollen heiraten, nur die Unterschrift unter Maries Scheidungspapiere scheint dem noch entgegen zu stehen. Die Probleme des Paares werden aber nach und nach offensichtlich: Maries 16-jährige Tochter Lucie (Pauline Burlet) kommt nur noch zum Schlafen nach Hause, sie hasst den neuen Liebhaber ihrer Mutter. Warum das so ist, das soll Ahmad herausfinden, denn Marie ist ebenso ratlos wie überfordert. In ihrem Haushalt leben auch noch ihre jüngere Tochter Léa (Jeanne Jestin) und Samirs fünfjähriger Sohn Fouad (Elyes Aguis), der ebenfalls schwierig ist und unter den komplizierten Familienverhältnissen leidet. Seine Mutter Valeria (Valeria Cavalli) liegt nach einem Selbstmordversuch im Koma – ohne Aussicht auf Rückkehr ins bewusste Leben. Das belastet die gesamte Familie.

    Mit dem in französischer Sprache gedrehten „Le Passé“ betritt Asghar Farhadi die Bühne des europäischen Autorenkinos, auf der er sich künstlerisch ganz offenbar genauso wohlfühlt wie in seiner Heimat Iran – seinen Themen und seinem Stil bleibt er jedenfalls erfolgreich treu. Wenn er sein neues Drama nun also in der schäbigen Pariser Vorstadt ansiedelt, dann ist die Nähe zur Touristenmetropole zwar spürbar, aber nie sichtbar: Bilder vom Eifelturm oder von den Champs-Elysées würden nur von der Geschichte ablenken. Der theatererfahrene Filmemacher konzentriert sich fast schon wie in einem Bühnenstück auf die Figuren, ihre Beziehungen und ihre universell verständlichen Konflikte. Genau wie in „Nader und Simin“ zeigt der Regisseur dabei eine besondere Sensibilität für das Unausgesprochene, Gefühle werden fast nur indirekt zum Ausdruck gebracht, die Unfähigkeit zur (erfolgreichen) Kommunikation ist erneut eins von Farhadis zentralen Themen. Mit der Ankunft von Ahmad löst sich das fatale  Geflecht aus notdürftig aufrechterhaltenen Lügen und ängstlich gehüteten Geheimnissen nach und nach auf, scheibchenweise kommt die ganze unbequeme Wahrheit ans Licht und schwelende Konflikte brechen aus. Dabei wird „Le Passé“ zu einem immer dichteren und intensiveren Drama über Schuld, Vergebung und die kaum zu verdrängende Last der Vergangenheit.

    Farhadi ist ein Meister dramatischer Konstruktion und verwebt die einzelnen Handlungsstränge auf komplexe und unerhört dichte Weise miteinander. Da sind Ahmad und Marie, die intime Momente teilen, die an der Richtigkeit der Scheidung zweifeln lassen, während die Liebe zwischen Marie und Samir ins Niemandsland abzudriften droht, weil der neue Mann unter der Präsenz des alten leidet. Lucie wiederum ficht ihren eigenen Kampf gegen Samir und seine Verbindung zu ihrer Mutter aus, dazu gerät der kleine Fouad in dem Durcheinander zwischen alle Fronten. Im Hintergrund vegetiert noch Samirs Frau Valeria im Koma vor sich hin und natürlich beeinflusst auch das alle anderen in entscheidender Weise. Atemberaubend sicher hält Farhadi alle Fäden in der Hand, ohne sie auch nur einmal aus den Händen gleiten zu lassen. Durch seine perfekt gesetzten Wendungen und Enthüllungen ist das Beziehungsdrama über weite Strecken spannend wie ein Thriller. Zu dieser Intensität trägt vor allem auch bei, dass Farhadi bei aller dramaturgischen Kunstfertigkeit in erster Linie auch ein Meister der mitfühlenden und wertfreien Beobachtung ist. Er stülpt der Geschichte keine dominante sozialrealistische Perspektive über und verzichtet auf jede politische Überhöhung („Le Passé“ ist kein Immigranten-Lehrstück und auch keine Kulturkampf-Studie). Die Figuren sind ebenso wenig  Fallbeispiele oder Studienobjekte wie Helden oder Schurken, hier gibt es nur  Menschen mit allen ihren Stärken und Schwächen.

    Farhadi ist ganz nahe bei seinen Figuren, so dass jede einzelne Szene mit einem Höchstmaß an emotionaler Spannung aufgeladen ist. Lautstarke Ausbrüche bleiben dabei die Ausnahme, kommt es dann doch zu einer solchen verbalen Eruption, dann ist die Wirkung umso nachhaltiger. Das ist nicht nur der feinfühligen Regie zu verdanken, sondern auch den überwältigenden Schauspielern. Der großartige Ali Mosaffa („The Last Step“) als Ahmad ist dabei so etwas wie der emotionale Anker für das Publikum. Der Iraner strahlt Ruhe und Würde aus, scheinbar kann er jedes Problem lösen. Dennoch ist auch er verletzlich und keinesfalls unfehlbar. Tahar Rahim („Ein Prophet“) steht  rollenbedingt ein wenig im Schatten des Kollegen, doch mit seiner sorgsam nuancierten, zurückhaltenden Verkörperung des unsicheren, zweifelnden, aber auch verhalten kämpferischen Samir fügt auch er seiner Vita eine ausgezeichnete Performance hinzu. Die preisgekrönte Bérénice Bejo („The Artist“) wiederum ist die Frau am Rande des Nervenzusammenbruchs, ihre Marie steht immer kurz vor dem Durchdrehen und ist mit der komplizierten Situation komplett überfordert – eine beeindruckende und herausfordernde Vorstellung. Und auch die Kinder- und Jugenddarsteller fügen sich nahtlos in das großartige Ensemble ein: Pauline Burlet ist als Trotzkopf Lucie eine verwundete Seele auf der vergeblichen Suche nach Orientierung, während der junge Elyes Aguis als Samirs Sohn Fouad in der Patchwork-Familie seinen Platz erstreiten muss.      

    Fazit: Asghar Farhadi setzt seinen Siegeszug durch die Filmwelt fort und bringt mit dem überwältigend intensiven Familien-Drama „Le Passé - Das Vergangene“ einen würdigen Nachfolger für seinen Oscar-Sieger „Nader und Simin“ an den Start – ein lebensechtes, in jeder Nuance stimmiges menschliches Drama.

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