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    Revision
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    Revision
    Von Jonas Reinartz

    Die Zeit: 3:45 Uhr am 29. Juni 1992. Der Ort: ein in der Nähe von Nadrensee (Mecklenburg-Vorpommern) gelegenes Getreidefeld an der polnischen Grenze. Eudache Calderar und Grigore Velcu – Rumänen, die illegal nach Deutschland einreisen wollten – fielen Jägern zum Opfer, die sie aus der Ferne für Wildschweine gehalten hatten. Es kam zu einem Prozess, der sich aber lange hinzog und mit einem Freispruch endete; bezüglich der Verhandlung wurden die Angehörigen der Opfer jedoch nie kontaktiert, so dass auch etwaige Entschädigungszahlungen ausblieben - mittlerweile sind derlei Ansprüche längst verjährt. Philip Scheffner („Der Tag des Spatzen") hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Fall mit den Mitteln des Dokumentarfilms einer „Revision" zu unterziehen. Ohnehin ist ja die klassische Dokumentation einem juristischen Verfahren nicht ganz unähnlich, in beiden Formen der Auseinandersetzung geht es um die Argumentation anhand von haltbaren Aussagen und Fakten. Dieser Ansatz von Scheffner leuchtet ein und sein Thema ist wichtig, aber seine Präsentation wirkt oft allzu gewollt und aufgesetzt.

    Obgleich Scheffner Einzelschicksale in den Vordergrund rückt, schafft er auch abseits des konkreten Falls eindringliche Einblicke in Zusammenhänge, die nur zu gerne verdrängt oder marginalisiert werden und macht auf die Belange der Roma aufmerksam. Und er wirft auch ein Licht auf jene Angriffe von Neonazis auf Asylbewerber in Rostock-Lichtenhagen im August 1992, die völlig zu Recht als Pogrom bezeichnet werden. Im Mittelpunkt stehen aber die Schicksale von Calderar und Velcu: Wie der Regisseur ausdrücklich anmerkt, begreift er „Revision" als „andere Form des Umgangs" mit einem Geschehen, an dem die deutsche Justiz völlig gescheitert sei. Dass auch danach zwangsläufig weiterhin offene Fragen bleiben, bedeutet dabei keinen Nachteil.

    In jedem Fall holen Scheffner und sein Team hier essentielle Ermittlungsschritte nach, die skandalöserweise von der Polizei niemals unternommen wurden. Dazu gehören eine Tatortbegehung mit Augenzeugen und die Rekonstruktion der Lichtverhältnisse, die herrschten, als die tödlichen Schüsse der Jäger fielen. Auch der Einfall, den Befragten ihre Aussagen vorzuspielen, so dass sie die Möglichkeit haben, sie selbst zu kommentieren, zeugt von der Sensibilität Scheffners. Allerdings nehmen nur wenige Interviewpartner diese Chance wahr. In der Praxis sind daher oft stumme Menschen im Bild, die ihrer eigenen Stimme lauschen – da hätte Scheffner durchaus auch kürzen können.

    „Revision" ist ein akribisch recherchierter Film – die formale Präsentation jedoch lässt viel zu wünschen übrig, zumal bei einem so wichtigen Anliegen. Immer wieder kehrt Scheffner zum Tatort zurück und fasst aus dem Off den jeweiligen Wissensstand zusammen. Dabei entfalten die Natur- und Windrad-Aufnahmen eine genau kalkulierte symbolische Wirkung, die nach der x-ten Wiederholung aber ermüdet und nichts mehr hinzufügt. Als ebenso manieriert erweisen sich die ständigen Ausblicke aus den Fenstern: Hier werden die Orte der Interviews mit diffuser Bedeutung aufgeladen, wirkliche Einblicke in die verschiedenen Milieus liefern diese Perspektiven nicht. Auch die zahlreichen Schwarzblenden und mehrfachen Einblendungen des Filmtitels verstärken den Eindruck einer gewissen inszenatorischen Aufdringlichkeit, die das bedrückende Thema nicht nötig gehabt hätte.

    Fazit: An den Grenzen der Europäischen Union starben zwischen 1988 und 2009 laut Statistik 14.687 Menschen. Mit „Revision" gibt Regisseur Philip Scheffner zwei dieser Menschen ein wenig von der Würde zurück, die ihnen die deutsche Justiz nicht zu geben bereit war.

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