Nach einer unspektakulären ersten Halbzeit des Berlinale-Wettbewerbs 2012 hatte manch einer schon fast die Hoffnung aufgegeben, nochmal so richtig von einem Film durchgeschüttelt zu werden. Meist war das Angebot zwar immerhin interessant, aber wirklich kontrovers diskutierbare Filme blieben lange aus. Und dann lief „White Deer Plain", ein dreistündiges chinesisches Historiendrama. Basierend auf einem höchst umstrittenen und wegen diverser Obszönitäten lange verbotenen Roman von Chen Zhongshi hat Wang Quan'an, der 2007 mit „Tuyas Hochzeit" den Goldenen Bären gewann, hier aus dem Vollen geschöpft und seinem Publikum ein beeindruckendes Epos beschert – obgleich es aufgrund seiner schieren Länge und seines eigenwilligen Subtextes gewiss nicht jedermanns Sache ist. „White Deer Plain" ist ein großer Film über Liebe und Hass, dementsprechend wird er auch beides provozieren.
China im Jahr 1912: Bisher herrschte im kleinen Bauerndorf Bai lu yuan ein entspannter Burgfrieden. Man half und verstand sich, auch, wenn es gelegentlich mal kleine Zwistigkeiten zwischen den Einwohnern gab. Als der Kaiser abgelöst und die Republik ausgerufen wird, bricht Unheil über die Gemeinschaft herein. Soll man sich den republikfreundlichen Lehnsherren unterordnen oder den kommunistischen Strömungen folgen? Bald kommt es zu ideologischen Grabenkämpfen. Als der Bauer Hei Wa (Wu Gang) dem strengen Lehnsherren seine junge Frau Tian Xiao'e (Zhang Yuqi) ausspannt und nach Bai lu yuan bringt, eskalieren die schwelenden Konflikte - eine Jahrzehnte andauernde Spirale von Gewalt und Leidenschaft wird in Gang gesetzt...
„White Deer Plain" erinnert an Bernardo Bertoluccis Klassenkampf-Epos „1900". Hier wie dort stehen Emanzipation und politische Selbstdefinition eines hart arbeitenden Bauernproletariats im Mittelpunkt, das über Generationen und Zeitenwenden hinaus lernen muss, sich gegen die Despotie der Lehnsherren und den Terror der oberen Stände zu erheben. Auch Wang Quan'an schwelgt in goldgefärbter Nostalgie und bündelt persönliche Liebes- und Leidensgeschichten zu einer unzertrennlichen Einheit. Dabei verkommt der Film anders als Bertoluccis Opus Magnum nie zur plumpen Propaganda-Parabel – der Kommunismus wird hier nicht als Allheilmittel gepriesen. „White Deer Plain" bietet ein ungleich differenzierteres Bild, gerade weil Wang Quan'an die politschen Aspekte der Geschichte immer wieder in den Hintergrund treten lässt.
Man weiß um die großen historischen Umwälzungen, die sich hier mehrfach Bahn brechen. In der Dorfperspektive, die Wang stets beibehält, ist der Wechsel zwischen den verschiedenen Ideologien jedoch eher nebensächlich, denn er wird von den Bewohnern als eine ununterbrochene Folge langer und harter Ausbeutung erlebt. Wenn sich zum Schluss die Ankunft der japanischen Armee und mit ihr das irdische Fegefeuer (wie es Zhang Yimou in seinem Berlinale-Beitrag „Die Blumen des Krieges" auf die Leinwand bannte) ankündigt, wirkt das fast wie eine biblische Strafe für die gesammelten Verfehlungen der Dorfoberen. Die einzigen Konstanten in dieser langen Historie sind Machtspiele, kultivierter Hass und verbotener Sex. Und davon gibt es hier in der Tat reichlich. Mit dem Auftritt der Femme Fatale Tian Xiao'e wird ein wahrer Unglückssturm entfacht: So mancher Mann wird ihr verfallen und alle werden sie an ihr zerbrechen.
Der exzessiv ausgetragene Geschlechterkampf ist dabei ein weiteres unter vielen ideologischen Schlachtfeldern. Impotenz, Ehebruch, Analverkehr, Natursekt – Blümchensex geht anders und doch hat jede Bettgymnastik immer eine tiefere, symbolische Bedeutung. Tian Xiao'e, einst selbst der herrschenden Klasse angehörig, nimmt dabei den Platz des personifizierten Kapitals ein. Über ihre Besitzer bringt sie Elend, Tod oder Verbannung - der Besitz nimmt Besitz von seinem Besitzer. Frauenfeindliche Töne lassen sich hier nicht wegdiskutieren. Und doch verleiht Wang Quan'an seiner Frauenfigur eine Identität, die weit über den Archetyp des teuflischen Weibes hinausgeht – und eine ergreifende Leidensgeschichte.
Inszeniert ist „White Deer Plain" dabei so effektiv wie wohlbedacht. Wang Quan'ans deutscher KameramannLutz Reitemeier dreht beeindruckende Impressionen von endlosen Weizenfeldern und vom exzellent ausgestatteten Dorftrott, liefert aber nie kitschige Postkarten-Motive. Die Sex- und Gewaltdarstellung ist explizit, aber gleichzeitig kann Wang Quan'an nicht genug dafür gelobt werden, der Versuchung einer effekthascherischen oder gar voyeuristischen Ausschmückung widerstanden zu haben. Immer wieder überrascht, wie schnell verspielt-verplätscherte Episoden ins Schicksalhafte umschlagen, ohne dass Sex und Gewalt dabei zwangsweise zum Spektakel erhoben werden.
Dass Wang Quan'an volle drei Stunden Kinoerzählung so genau unter Kontrolle hat, spricht für seine Klasse als Regisseur, ja sogar als Erzähler großer Epen. Ambitioniertes Kino wie dieses will erfahren, erlitten und schlicht überstanden werden. Wie ein massiver Monolith aus Geschichten, Gefühlen und Bildern türmt sich der ausladende Film auf. So unkonsumierbar wie ihn auf der Berlinale 2012 manch einer geschildert hat, ist er ganz sicher nicht – Geduld und Konzentrationsfähigkeit muss ein interessiertes Publikum für eine solche cineastische Mammutaufgabe allerdings schon mitbringen.
Fazit: Wirklich besonderes Kino hat Ecken und Kanten, es fordert heraus. Wer sich vom schieren Gewicht des Stoffes, der epischen Länge und der kontrovers diskutierbaren Geschlechter- und Geschichtspolitik nicht abschrecken lässt, erlebt mit „White Deer Plain" eben dieses wirklich besondere Kino.