Oskar Roehler ist so etwas wie das Enfant terrible des deutschen Films. Der eigenwillige und risikobereite „Elementarteilchen"-Regisseur ist nicht nur als Künstler umstritten, sondern sorgt auch gelegentlich mit Interviewäußerungen für Aufsehen, denn er hält sich bei der kritischen Beurteilung der Arbeit von Kollegen nicht zurück. Zuletzt stand er auf der Berlinale 2010 mit seinem Nazi-Satire-Drama „Jud Süss - Film ohne Gewissen" im Mittelpunkt einer Kontroverse. Die von vielen kritisierten Freiheiten, die Roehler sich beim Umgang mit den historischen Fakten genommen hat, sind bei ihm Methode, schließlich gehören Überspitzung und Exzess zu seinen bevorzugten Stilmitteln. Das gilt für wuchtige persönliche Dramen wie „Agnes und seine Brüder" und „Der alte Affe Angst" genauso wie für die 50er-Jahre-Liebesfantasie „Lulu und Jimi". Mit seinem neuesten Film knüpft Roehler nun in gewisser Weise an den vergleichsweise nüchternen „Die Unberührbare" an, seinen bisher größten künstlerischen Erfolg. Darin erzählte er von den letzten Monaten im Leben seiner Mutter, der Schriftstellerin Gisela Elsner, jetzt lässt er in den ausufernd-abwechslungsreichen 174 Minuten des ebenso spannenden wie uneinheitlichen „Quellen des Lebens" eine filmische Familienchronik über drei Jahrzehnte hinweg folgen. Er spannt den Bogen von den 1950ern bis zu den 1970ern und schreibt dabei auf seine ganz individuelle Art auch eine Art Sittengeschichte der Bundesrepublik.
An der Schwelle zu den 1950er Jahren kehrt Erich Freytag (Jürgen Vogel) aus der Kriegsgefangenschaft zurück zu seiner Familie in Franken. Von seiner Frau Elisabeth (Meret Becker), die inzwischen ein Verhältnis mit seiner Schwester Marie (Sonja Kirchberger) hat, wird er nicht gerade begeistert empfangen und auch der inzwischen erwachsene Sohn Klaus (Kostja Ullmann) ist ihm fremd geworden. Einige Zeit später verliebt sich Klaus (nun: Moritz Bleibtreu), der Schriftsteller sein will, in Gisela Ellers (Lavinia Wilson), Tochter aus wohlhabendem Hause, die ebenfalls künstlerische Ambitionen hegt. Die Beziehung bringt bald ein Kind hervor, aber der kleine Robert (Ilyes Moutaoukkil) wird von den stets streitenden Eltern vernachlässigt. Der Junge verlebt eine glückliche Zeit bei Oma und Opa Freytag, doch dann holt ihn sein Vater zu sich nach Berlin, bevor ihn die Großeltern mütterlicherseits (Margarita Broich, Thomas Heinze) aufnehmen. Auf eine unstete Kindheit folgt für Robert (nun: Leonard Scheicher) eine rebellische Jugend und die erste Liebe mit der Nachbarstochter Laura (Lisa Smit)...
Wie schon bei „Die Unberührbare" sind auch in „Quellen des Lebens" die autobiografischen Bezüge zunächst einmal verschlüsselt. Aus Oskar Roehler selbst wird Robert Freytag, der Vater behält seinen Vornamen Klaus und die Mutter heißt hier Gisela Ellers statt Elsner. Es geht dem Filmemacher, der den Familienstoff nach dem Verfassen des Drehbuchs auch zu einem Roman mit dem Titel „Herkunft" verarbeitete, allerdings nicht darum, die persönlichen Zusammenhänge zu verschleiern, stattdessen weisen die Namensänderungen auf einen Anteil Erfindung und Fiktion hin. Zu allen Figuren außer Robert entsteht dabei eine gewisse Halbdistanz: der Junge ist zunächst ein unfreiwilliger Zeugen und dann ein genau beobachtender Außenseiter. Dass er als Erwachsener zum Chronisten wird, das hat sich Roehler hier sozusagen selbst in die Wiege gelegt. Er zeigt sich als souveräner, im Vergleich zu früheren Werken fast zurückhaltender Erzähler, dabei trägt der Film seinen Untertitel „eine deutsche Familiengeschichte" völlig zu Recht.
Viele der großen Themen der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte bringt Oskar Roehler in bestechender Evidenz auf die Leinwand: von der durch den Krieg zerrissenen Familie, dem Wirtschaftswunder und der Spießigkeit der 50er über das Leben der Künstler-Bohème bis zu den Generationen-Spannungen der 70er. Wenn der verwahrloste Erich (Jürgen Vogel zeigt Mut zur Hässlichkeit - und eine großartige Leistung) in die enge Wohnung zu Frau und Kindern zurückkommt, dann genügen Roehler wenige kurze Szenen ihn zum Fremdkörper zu machen und ihm zugleich den Antrieb zu seinem Wiederaufstieg zu verschaffen. Der gelingt dann ausgerechnet mit der Herstellung und dem Verkauf von Gartenzwergen, dem Symbol schlechthin für kleinbürgerliche Nachkriegsspießigkeit. Hier geht es meist so deutlich zu, aber meist zeigt uns Roehler das alles mit einem erfrischenden Staunen und oft mit einem treffenden Anflug von Spott, nur selten verfällt er in rein banale Klischeehaftigkeit. Interessanterweise wirkt gerade das Künstler-Universum der Eltern zwischen Zigarettennebel, leerem Sex und stiller Verachtung allzu grob skizziert. Dem stehen dann aber auch denkwürdige Szenen gegenüber wie jene, in der die reiche Großmutter den kleinen Robert zu einem regelrechten Fressgelage im Berliner Hotel Kempinski verleitet – hier zeigt Roehler die Obsession für das Sattessen, die schauerlich-protzige Kleidung, die allgemeine Verklemmung und die Verlorenheit des zum Objekt werdenden Kindes.
Wie hier manchmal fast schon beiläufig in einer Geste oder einer kurzen Szene eine ganze Epoche auf den Punkt gebracht wird, das erinnert in einigen der besten Momente an Werke von Rainer Werner Fassbinder („Die Ehe der Maria Braun"), die punktgenaue Verknappung gelingt allerdings nicht immer und so wirkt ein später Wutausbruch von Moritz Bleibtreu („Der Baader Meinhof Komplex") ebenso aufgesetzt wie seine ständiges „Trink deine Milch" an den Sohn, aus dem seine ganze Erziehung besteht. Ihm und auch Lavinia Wilson („Allein") als Gisela, die schnell aus dem Film verschwindet, bleibt ein zärtlicher Moment versagt wie es ihn zwischen Erich und Erika am Ende gibt oder auch zwischen Herr und Frau Werner (Steffen Wink, Erika Maroszan), den Eltern von Roberts Jugendliebe – dem Krebspatienten eine Zigarette in die offene Luftröhre zu stecken, das kann auch ein Liebesbeweis sein. Der Erzähler-Protagonist selbst wirkt im Vergleich zu vielen der anderen Figuren dagegen fast schon ein wenig langweilig, seine Beobachtungen sind trotz einer zärtlich erzählten ersten Liebe spannender als seine Erlebnisse: Offenbar hat Oskar Roehler den richtigen Beruf gewählt.
Fazit: Nicht ohne Leerlauf und Umwege, aber meist mit bestechender Präzision und Klarheit entwirft Oskar Roehler in fast drei unterhaltsamen Stunden eine autobiografisch gefärbte Geschichts- und Familienchronik.