Seit der Ausrufung des Staates Israel 1948 ist der Nahe Osten nicht mehr über längere Zeit zur Ruhe gekommen. Immer wieder eskaliert der Hass zwischen Juden und Palästinensern und zumindest in naher Zukunft ist ein Ausgleich zwischen den beiden Konfliktparteien nicht zu erwarten. Allenfalls auf individueller Ebene scheint Versöhnung möglich, wofür es sowohl in der Realität als auch in der Fiktion immer wieder hoffungsvolle Signale gibt. So wird etwa in der Dokumentation „Nach der Stille" eine Jüdin begleitet, die die Begegnung mit der Familie des Selbstmordattentäters sucht, der ihren Mann auf dem Gewissen hat. Der in Moskau geborene und in Berlin lebende Regisseur Leo Khasin trägt den Nahost-Konflikt nun gewissermaßen in die deutsche Hauptstadt und erzählt in seinem Drama „Kaddisch für einen Freund" etwas umständlich, letztlich aber durchaus überzeugend von der Annäherung zwischen einem russischstämmigen alten Juden und einem palästinensischen Jungen.
Der in einem Flüchtlingslager aufgewachsene 14-jährige Ali (Neil Belakhdar) ist mit seinen Eltern einst aus dem Libanon geflohen. Nach einem Aufenthalt in einem Asylbewerberheim bekommt seine Familie ein Domizil in Berlin-Kreuzberg zugewiesen. Über der Familie Messalam wohnt ausgerechnet ein Jude: der 84-jährige Alexander (Ryszard Ronczewski). Nachdem Ali das herausgefunden hat, vermeidet er zunächst jeden Kontakt mit dem „Feind". Dafür sucht er verstärkt Anschluss an eine Gruppe arabischer Jugendlicher, mit denen sein Cousin abhängt. Doch um in ihren Kreis aufgenommen zu werden, soll Ali seinen Mut beweisen – und bei Alexander einbrechen. Als er zur Tat schreitet, folgen ihm die anderen und verwüsten die Wohnung des alten Mannes. Der taucht überraschend auf, erkennt aber nur den gerade strafmündig gewordenen Nachbarsjungen und erstattet Anzeige. Nun ist Alis bislang nur geduldete Familie von Abschiebung bedroht. Mutter Mouna (Sanam Afrashteh) versucht, Alexander zu beschwichtigen. Der Alte, der wegen angeblich drohender Verwahrlosung behördlicherseits in ein Altenheim umgesiedelt werden soll, erkennt seine Chance: Er will die Anzeige zurückziehen, wenn Ali seine Wohnung renoviert...
Mit einer gelungenen Sequenz animierter Zeichnungen macht Regisseur Khasin den Zuschauer zunächst mit dem Schicksal der Flüchtlingsfamilie vertraut. So erfährt man in Kurzform, was den Messalams im Libanon widerfuhr, wie sie nach Deutschland kamen und schließlich in die Kreuzberger Wohnung zogen. Erst dann beginnt der eigentliche Film. In dem findet sich leider die erzählerische Eleganz der Eröffnungspassage nicht durchgehend wieder. Stark ist Khasins Werk dort, wo sich der Spielfilmdebütant ganz auf den Annäherungsprozess zwischen seinen beiden verschiedenen Generationen und Religionen entstammenden Protagonisten konzentriert. Leicht ließen sich die gegenseitigen Vorurteile komödiantisch auflösen, aber auf solche allzu einfachen Kniffe verzichtet Khasin bewusst. Er macht vielmehr zunächst das ganze Ausmaß der tiefsitzenden Vorbehalte und damit die Schwierigkeit, aber auch die Bedeutung einer Annäherung klar. Da ist es dann eine ebenso bittere wie sinnfällige Pointe, dass die Versöhnung durch äußere Umstände wie die simple Tatsache, dass sich Alexanders Anzeige nicht so einfach zurückziehen lässt, behindert wird. Und so dauert es fast zwangsläufig eine ganze Zeit, bis das Eis zwischen Ali und Alexander endgültig gebrochen ist.
Spannend gezeichnet ist vor allem die Figur des Alexander: ein zu trockenem Humor neigender Kauz mit Ecken und Kanten, den Ryszard Ronczewski ebenso sperrig spielt wie den ehemaligen KZ-Häftling Stanislaw Krzeminski in Robert Thalheims Film „Am Ende kommen Touristen" über einen Zivildienstleistenden im ehemaligen Auschwitz. Als Alexanders junger Widerpart macht Neil Belakhdar („Wir sind die Nacht") seine Sache nicht schlecht, es fällt nicht auf, dass der 1992 geborene Schauspieler eigentlich ein paar Jahre zu alt ist für die Rolle des Milchbubis, die im Übrigen ebenfalls erfreulich vielschichtig angelegt ist. Umso bedauerlicher, dass die meisten Nebenfiguren - etwa Alis cholerischer Vater, die Bürokratendame vom Sozialamt und vor allem die arabische Jugend-Gang – arg stereotyp daherkommen, was sich in diversen Nebenhandlungssträngen negativ bemerkbar macht.
Fazit: Leo Khasins Kinodebüt „Kaddisch für einen Freund" offenbart vor allem bei den Nebenhandlungen und –figuren einige Schwächen, aber seine zentrale Versöhnungsbotschaft verfängt. Die Annäherung zwischen dem palästinensischen Jugendlichen und dem jüdischen Alten ist gerade deshalb so überzeugend geraten, weil es sich Khasin mit seinem schwierigen Thema eben nicht leicht macht.