Es ist ein atemberaubendes Bild, mit dem Emily Atef ihr Drama „Töte mich" eröffnet, ihr Roadmovie ohne Straße, ihre Geschichte von der Sehnsucht nach dem Tod. Auf einer Klippe, an den Rand gedrängt, beinahe bewegungslos verharrt da die 15-jährige Adele (Maria Dragus) – vor ihr, weit ausgebreitet in Cinemascope, der Himmel, die Wolken, das Nichts. Dieses atmosphärische Panorama, das die Regisseurin für endlos scheinende Sekunden „einfriert", ist der Auftakt für eine betont langsame und herausfordernd mehrdeutige Erzählung. In dieser Mehrdeutigkeit aber verliert sich Atef schließlich, die zunächst anregende Offenheit schlägt schließlich nahezu in Beliebigkeit um und die Bedeutung der so betont universell gehaltenen Geschichte bleibt nebulös.
Adele möchte sterben. Doch sie schafft es nicht, sich in den Abgrund zu stürzen, schreckt im letzten Moment zurück. Dann sucht der Ausbrecher Timo (Roeland Wiesnekker) Zuflucht auf dem Hof, den Adele mit ihren Eltern bewirtschaftet, irgendwo im Südwesten der Republik. Und Adele sieht ihre Chance gekommen. Sie bietet dem verurteilten Mörder an, ihn unbehelligt in die Stadt zu führen, wo er sich auf den Weg machen kann nach Marseille und von dort mit dem Schiff nach Afrika. Ihr Preis allerdings ist hoch – denn Timo soll vollenden, wozu Adele selbst nicht in der Lage war, und ihrem jungen Leben ein Ende setzen...
Zwei grundverschiedene Persönlichkeiten, die sich zusammenraufen müssen und ein weiter Weg, dessen eigentliches Ziel die Selbsterkenntnis ist – so furchtbar originell ist diese Konstellation nicht. Emily Atef („Das Fremde in mir") gibt ihr durch das inhaltlich Spektakuläre Zündkraft, durch den Todeswunsch Adeles und die naheliegende Vermutung, dieser Timo könnte ihr das Gesuch ohne viel Federlesens erfüllen. Gleichzeitig verzichtet die Regisseurin aber bei Montage und Erzählrhythmus auf alles Effekthascherische und Hektische. Besonders beeindruckend sind in diesem Sinne die lakonischen Szenen, die die Ödnis in Adeles Elternhaus zeigen. Oder die seltsam mechanischen Tötungsvorbereitungen, wenn Adele den zögerlichen Timo drängt, sein Versprechen endlich in die Tat umzusetzen.
Die Gewalt auf dem Hof ist unterschwellig und das Schweigen beredt. Als Adele eine Kuh abhandenkommt, ist das strenge Regime ihres Vaters eher an der Angst des Mädchens vor der Bestrafung abzulesen als an dessen letztlich doch moderatem Zorn. Und wenn Timo Adele verschnürt, ihr die Augen verbindet und die Waffen wetzt zum finalen Stoß – da ist für einen schrecklichen Moment spürbar, wie schnell der Mensch zur Bestie mutieren kann. Warum Adele nun unbedingt sterben will? Trotz aller Härte ihres Alltags gibt es dafür keine einfache Erklärung, Atef betont vielmehr das Ambivalente. Dazu passt durchaus, dass es zunächst nicht zum Mord kommt und die gemeinsame Flucht von Adele und Timo weitergeht. Und zwar an die französische Küste, wo Timo noch eine alte Rechnung mit seinem Bruder begleichen möchte.
Doch diese Abschweifung tut dem bis dahin konzentrierten Film nicht gut, dessen Stärke doch gerade im Rätselhaften lag, in der Offenheit für viele Deutungen und Annäherungen. Maria Dragus, die schon in Michael Hanekes meisterhaftem „Das weiße Band" hinter ihrem Stoizismus einen tiefen Abgrund zu verbergen schien, überzeugt immer da, wo sie jede Anteilnahme an einer glatten, hölzernen Oberfläche abperlen lässt. Doch wenn diese Undurchdringlichkeit bei Adele noch fasziniert, so bekommt der so grobschlächtige wie grobe Timo dafür von Roeland Wiesnekker („Der Fürsorger") bei weitem nicht genug Charisma verliehen. Er seufzt, er knurrt, er schnauft, mal brüllt er, aber sein Dasein wird - im Gegensatz zu Adele, die gerade durch ihren Todeswunsch ganz im Jetzt lebt – von einer nicht sonderlich interessanten Vergangenheit bestimmt.
Im Schlusskapitel überrascht Atef mit einem spürbar schnelleren Erzähltempo, damit geht allerdings keine größere Klarheit einher – vielmehr wirkt ihre Versuchsanordnung ohne erkennbares Ziel zunehmend beliebig: Adele beim Fußballspiel mit Marseiller Jungs, ein verzweifelter Quickie zwischen Timo und einer hilfsbereiten Autofahrerin, lange Einstellungen, in denen die beiden Flüchtenden hintereinander durch den deutschen Wald oder die französische Buschlandschaft tapsen. Irgendwann gerät der Film vollends aus dem Gleichgewicht und die zunächst erfrischende Verspieltheit, die wie nebenbei sogar noch zur sorgfältigen Figurenzeichnung beitrug, macht selbstzweckhaft wirkenden Abschweifungen Platz – etwa als eine Pistole ins Spiel kommt.
Fazit: „Töte mich" ist ein bewusst spröde gehaltener und thematisch fordernder Film, der gerade in seiner Lakonie vor allem anfangs noch Beklemmung auslöst, aber im weiteren Handlungsverlauf erscheint die betont reduzierte Erzählweise zunehmend als Selbstzweck – aus dem Drama wird eine Stilübung.