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    Empire Me - Der Staat bin ich!
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    2,5
    durchschnittlich
    Empire Me - Der Staat bin ich!
    Von Robert Cherkowski

    Im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends hat die erste Welt einen unglaublichen Wohlstand erreicht. Die Lebenserwartung ist so hoch wie noch nie, über digitale Highways ist die Welt endgültig zu einem Dorf geworden, in dem man das Haus nicht mehr verlassen muss, um am kulturellen Austausch rund um den Globus teilzunehmen. Bauwerke ragen hoch wie nie in den Himmel und die Gentechnologie lässt den Menschen Gott spielen. Trotzdem oder gerade deswegen ist auch die Angst vor dem Verlust des allgemeinen Wohlstands und der kleinen Statussymbole größer als je zuvor. Nichts fürchtet der Mensch mehr als Veränderung und dass sich einiges ändern muss, ist in Zeiten der großen Wirtschafts- und Finanzkrisen sowie der unabsehbaren Folgen der politischen Umwälzungen im arabischen Raum offensichtlich. Doch nicht jeder macht sich Sorgen: Einige zivilisationsmüde Aussteiger haben schon längst begonnen, nach neuen Formen des (Zusammen-)Lebens Ausschau zu halten und neue Wege bestritten. In seiner Dokumentation „Empire Me – Der Staat bin ich!" berichtet Regisseur Paul Poet von sechs Beispielen kleinerer und größerer Enklaven, die sich entschieden sämtlichen gängigen Modellen gesellschaftlicher Ordnung verweigern. Leider lässt Poet jede kritische Distanz zu seinem Gegenstand vermissen, so dass hier auch wohlwollende Zuschauer früher oder später aussteigen.

    Poet teilt seine sechs Fallbeispiele alternativen Zusammenlebens in separate Kapitel ein: In den ersten zwei Abschnitten dreht sich alles um liebenswert-exzentrische Experimente der Freistaatlichkeit. Während unweit vor der Küste Englands eine ehemalige Seefestung zum „Fürstentum Sealand" ausgerufen wurde, die von lediglich drei Einwohnern bewohnt wird, kam es im australischen Outback zur Gründung der „Hutt River Provinz". Die ist inzwischen zum Wallfahrtsort für Touristen und Backpacker geworden, die sich an den eigenwilligen (und nicht ganz ernst gemeinten) Ritualen und Bräuchen der skurrilen Gemeinde erfreuen. Mit den Beispielen aus den englischen Gewässern und der australischen Steppe findet Poet einen guten Einstieg, denn die dort besuchten Eigenbrötler sind Exzentriker mit angenehmen und amüsanten Spleens.

    Im Anschluss begibt er sich allerdings in schwierigere Gefilde und besucht das „esoterische Disneyland" Damanhur in Norditalien sowie eine Kommune von freiliebenden Sex-Abenteurern, die sich redlich bemühen, dem Klischee des labilen Ökos zu entsprechen. Hier verzettelt sich Poet ein wenig und findet keinen rechten Standpunkt zum Gezeigten. Wollte er die Widersprüche des esoterisch verbrämten Gruppenlebens nicht aufdecken oder hat er sie schlicht übersehen? Die Antwort bleibt er uns mit seiner oberflächlichen Schilderung schuldig, obwohl die Aussteiger ihre Neurosen teilweise recht deutlich ausleben. Angesichts der teils doch seltsamen Sitten und Gebräuchen, die hier präsentiert werden, hätte eine gesunde Distanz des Filmemachers zum Gezeigten nicht geschadet, speziell das Treiben der Sex-Aussteiger in der Nähe Berlins lässt zwischen den Zeilen unschwer sektenartige Strukturen erkennen. Die wohlfeilen Worte von freier Liebe und der heilenden Kraft der Sexualität können die Hierarchien und die Psychodramen, die sich hinter der Fassade der „Freiheit" erahnen lassen, nicht kaschieren - nur Poet scheint sich leider nicht dafür zu interessieren.

    Während passionierte Dokumentarfilmer wie Michael Glawogger („Workingman's Death") sich oft für Wochen oder Monate in den Lebensraum begeben, von dem sie dann mit großem Verständnis berichten, haben Poet und sein Team ihren Zielen offenbar lediglich kurze Stippvisiten abgestattet, ein paar Interviews geführt und sich mal eben das Terrain zeigen lassen. Dieser Eindruck entsteht jedenfalls angesichts der Oberflächlichkeit der meisten Episoden. Die mangelnde Tiefe versucht Poet mit einem reichlich verquasten Off-Kommentar wettzumachen, der die einzelnen Kapitel verbinden soll, jedoch über keinen großen inhaltlichen Nährwert verfügt. Angesichts der fehlenden Substanz einiger der in Ton und technischer Qualität höchst unterschiedlich ausfallenden Episoden bleiben auch die farbenprächtigen Übergangs-Collagen von animierten Landkarten, mit denen klargemacht wird, dass Ländergrenzen mitsamt ihrer einengenden Bedeutung hier keine Rollen mehr spielen, reine Zierde. Die Verfremdungseffekte mögen schön anzusehen sein, etwa wenn Öl über eine Karte gegossen wird und diese dann Feuer fängt, aber ihre symbolische Tragweite bleibt nicht haften – da hilft auch die stimmungsvolle Musik von Alexander Hacke (Einstürzende Neubauten) nicht weiter.

    Vieles wird eher angerissen statt mit ausreichender Sorgfalt unter die Lupe genommen. Besonders wenn sich Poet ins autonom-kriminelle Zentrum von „Christiana" am Rande Kopenhagens wagt, fällt diese Arglosigkeit unangenehm auf. Nicht einmal den Umstand, dass er selbst und seine Kameramänner ständig von den Dealern und Kriminellen, die sich auf dem Gelände herumtreiben, verjagt und bedroht werden, nimmt der Regisseur zum Anlass, das ganze Unternehmen einmal gründlich zu hinterfragen. Und so bleibt beispielsweise auch offen, worum es bei einer spontanen Demonstration ging, deren Zeugen Poets Leute und wir mit ihnen zufällig wurden – es ist nicht der einzige Moment, in dem sich das wirklich Interessante außerhalb des Blickfelds der Kameras abzuspielen scheint.

    Erst mit der abschließenden Episode über eine Gruppe autonomer kunstschaffender Punks, die aus Schrott die schwimmende Stadt Serenissima zusammengeschraubt haben, mit der sie den Canale Grande von Venedig befahren, sammelt Poet wieder einige Pluspunkte und verschafft seinem Film immerhin einen würdigen Abschluss. Auch wenn die Einblicke auch hier eher oberflächlicher Natur bleiben, hat die Kreuzfahrt auf den schwimmenden Schrotthaufen, die aussehen, als wären sie vom Dreh von „Waterworld" übrig geblieben, einen hohen Unterhaltungswert und einiges selbstreflexives Potential. Das liegt vor allem an den Seefahrern, die hier in den Mittelpunkt rücken und die weder sich noch ihre Ziele allzu wichtig nehmen und paradoxerweise gerade dadurch zu den ernsthaftesten Sympathieträgern des gesamten Films werden. Zu jeder Zeit ist klar, dass ihre Reise zum Scheitern verurteilt ist und ihre „Schiffe" sobald wie möglich von der Wasserschutzpolizei aus dem Verkehr gezogen werden - wenn dies nicht schon vorher ein rauer Seegang erledigt: Diese kleine Geschichte vom bewussten Scheitern mit einem Lächeln in den Mundwinkeln wäre auch ein guter Stoff für eine Werner-Herzog-Dokumentation gewesen. Dessen Format wird hier aber leider nie erreicht.

    Fazit: Weniger wäre mal wieder mehr gewesen: Paul Poets dokumentarischer Reigen skurriler Eigenbrötler- und Aussteigerepisoden ist extrem uneinheitlich geraten. Neben ärgerlich oberflächlichen Porträts gibt es aber auch sympathische Momentaufnahmen, die zumindest zum Teil für die konzeptionellen Schwächen entschädigen.

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