Vor einigen Jahren hat die Juristin und Schriftstellerin Juli Zeh zunächst in dem Theaterstück „Corpus delicti", später dann in dem gleichnamigen Roman eine sehr aktuelle Zukunftsvision ausgebreitet: Im Jahr 2057 hat sich Deutschland in eine Gesundheitsdiktatur verwandelt. Jeder seiner Bürger steht unter strenger Überwachung durch die Organe der „Methode", die den Gesundheits- und Perfektionswahn einiger weniger zur alleinigen Staatsdoktrin erhoben und die individuellen Freiheiten des Einzelnen radikal eingeschränkt hat. Diese genregerechte Dystopie ist dabei für Juli Zeh vor allem eine Folie, vor der sie brisante juristische, politische und gesellschaftliche Fragen stellen kann. Noch ist es zwar nicht so weit wie in ihrer Fiktion, aber die entscheidenden Weichen werden vielleicht schon sehr bald gestellt. Diese Überlegung steht allem Anschein nach auch hinter Adnan G. Köses („Homies", „Lauf um Dein Leben – Vom Junkie zum Ironman") pessimistischem Psycho- und Justiz-Thriller „Kleine Morde". Auch er hat die Gegenwart im Visier, während er das bedrohliche Bild einer nahen Zukunft malt, in der Kinder und Jugendliche vor Gericht als Erwachsene angeklagt werden. Nur verliert er sowohl die Übersicht wie auch jeden Fokus und verstrickt sich praktisch zwangsläufig in unzähligen Klischees.
Ein kleiner Junge wurde brutal gefoltert und dann kaltblütig ermordet. Während die Medien noch darüber spekulieren, ob er das Opfer eines entflohenen Kinderschänders geworden ist, konzentrieren sich die Ermittlungen der Polizei auf den 12-jährigen Martin Brinkhoff (Paul Falk). Der Sohn eines berühmten Richters beteuert zwar seine Unschuld, war aber der Letzte, der zusammen mit dem Opfer gesehen wurde. Außerdem wurden erst vor kurzem die Gesetze geändert. Angesichts einer sich immer weiter ausbreitenden Kinder- und Jugendkriminalität hat der Gesetzgeber die Strafmündigkeitsgrenze aufgehoben. Nun befürchtet nicht nur Martins ambitionierte Anwältin Julia Corner (Ann-Kathrin Kramer), dass ein Exempel an dem Jungen statuiert wird.
Auch wenn „Kleine Morde" auf den ersten Blick kaum mehr als sein Setting in der nahen Zukunft mit „Corpus delicti" verbindet, drängt sich dieser Vergleich geradezu auf. Schließlich nutzt auch Juli Zeh die Konventionen des klassischen Gerichtsdramas und rückt einen großen (Schau-)Prozess ins Zentrum ihrer düsteren Betrachtungen. Zudem begibt sich Adnan G. Köse mit seiner Geschichte ganz bewusst auf das Territorium der schreibenden Juristin. Sein Film beginnt sogar mit einem Prozess, der den Volkszorn entfacht. Der Mann, der von den Medien und der Öffentlichkeit dafür verantwortlich gemacht wird, dass ein Kindermörder seinen Freigang zur Flucht nutzen konnte, wird freigesprochen und begeht noch im Gerichtsgebäude Selbstmord. Am Ende steht dann ein weiterer, nicht weniger umstrittener Prozess, und wieder erweisen sich Recht und Gerechtigkeit als wenig kompatibel.
Adnan G. Köse legt seine Finger in viele Wunden, und genau damit beginnt auch schon das Problem. Seine Ambitionen sind gewaltig. So erzählt er eben nicht nur von einer Zukunft, die durchaus wahrscheinlich ist – in den Vereinigten Staaten ist es schließlich üblich, dass Kinder vor Gericht wie Erwachsene behandelt werden. Er wagt sich zudem auch noch an mehrere psychologische Porträts pathologischer Persönlichkeiten. Der entflohene Kinderschänder und -mörder bleibt zwar mehr oder weniger ein Phantom, tritt aber in einer parallelen Erzählung mehrmals in Erscheinung. Außerdem gibt es da noch einen alten von dem mittlerweile verstorbenen Günther Kaufmann („Wickie und die starken Männer") gespielten Mann, der ein Opfer sinnloser Gewalt wurde, einen Polizisten, der seine Arbeit offensichtlich als Kreuzzug versteht, eine viel zu ehrgeizige Anwältin, einen perfekten Sündenbock, dem Jimi Blue Ochsenknecht („Die wilden Kerle") wohl so etwas wie James-Dean-Charisma verleihen soll, und einen alten Mann, der weise, aber machtlos ist.
Letztlich sagt schon diese Aufzählung alles. Adnan G. Köse will so viel, dass ihm gar nichts anderes übrig bleibt, als auf Klischees und vermeintlich überraschende Wendungen zurückzugreifen. Nur ist am Ende eben keine einzige Wendung wirklich überraschend. Alles deutet sich schon immer lange vorher an. Aber nicht nur das Drehbuch, das Köse selbst geschrieben hat, ist komplett überladen. Auch die krampfhaft um eine düstere Atmosphäre bemühten Bilder von Kameramann James Jacobs und Philipp F. Kömels Emotionen regelrecht erzwingende Filmmusik werden derart überdeutlich eingesetzt, dass sie fast schon zu parodistischen Elementen werden. Anscheinend vertraut Adnan G. Köse weder seinen Schauspielern, die er wieder und wieder symbolisch dräuend ins Bild setzt, noch seinem Publikum, das er schlichtweg bevormundet.
Fazit: Mut hat Adnan G. Köse mit seinem zumindest im deutschen Kino eher ungewöhnlichen Genreszenario ohne Frage bewiesen. Nur Mut alleine reicht noch nicht aus. So entscheidet der Regisseur sich nie wirklich, ob er nun eine dystopische Zukunftsvision entwerfen oder doch lieber das Psychogramm eines soziopathischen Mörders zeichnen will. Am Ende ist „Kleine Morde" weder das eine noch das andere. Dafür bedient Köse aber alle denkbaren Klischees und so ziemlich jeden niederen Instinkt des Publikums.