Wenn türkische Filmproduktionen in Deutschland anlaufen, dann handelt es sich oft um Klamotten vom Schlage eines „Recep İvedik", die dem internationalen Humorverständnis beizeiten etwas zuwiderlaufen. Beizeiten jedoch gesellt sich zu solchen Harmlosigkeiten auch handfester nationalistischer Trash mit antisemitischem Beigeschmack wie „Tal der Wölfe" oder dessen noch fragwürdigere Fortsetzung „Tal der Wölfe 2". Darüber wird oft vergessen, dass das türkische Kino in schöner Regelmäßigkeit auch den ein oder anderen Klassiker gebiert und die Filmwelt so immer wieder aufhorchen lässt: Yılmaz Güneys malerisch-schweres Kinogedicht „Yol - Der Weg", Semih Kaplanoğlus preisgekröntes Meisterwerk „Bal - Honig" oder das melancholische Krimi-Melodram „Once upon a Time in Anatolia". In Deutschland feierten diese Werke immerhin kleinere Programmkino-Auftritte, in ihrer Heimat jedoch werden sie kaum bis gar nicht wahrgenommen. Das tut ihrer Qualität freilich keinen Abbruch. Ganz auf dem Niveau der genannten Meisterwerke ist Shiar Abdîs Drama „Mes – Lauf" nicht – einen Kinobesuch rechtfertigt die tieftraurige Geschichte einer Kindheit zwischen Freundschaft und Militärrepression aber allemal.
Im ländlichen Kaff Nuseybin in der östlichen Türkei laufen Anfang der 1980er die Uhren ein wenig anders. Manchmal scheint es sogar, als wären sie seit hunderten Jahren komplett stehengeblieben. Nur gelegentlich auftauchende Autos machen klar, dass wir uns im 20. Jahrhundert befinden. Ansonsten gibt es Liebschaften, die sich gegen den Willen der Familien durchsetzen müssen, verlorene Söhne, überforderte Väter, hingebungsvolle Mütter und ein verschworene Gemeinschaft. Es ist auch das Revier des zwölfjährigen Cengo (Abdullah Ado), der durch die Straßen streift und Kaugummis verkauft. Dabei sticht ihm der alte Xelilo (Abbülselam Kılgı) ins Auge. Dieser scheint schwer traumatisiert und verbringt seine Tage damit, schweigend hin und her zu trotten und den Dorfbewohnern von Zeit zu Zeit ihre Zigaretten zu stehlen. Auch wenn er von den meisten Bewohnern als Dorftrottel angesehen wird, freundet sich Cengo mit dem alten Sonderling an. Als dann jedoch das türkische Militär im kurdischen Nuseybin einfällt und beginnt, vermeintliche Dissidenten (sprich: die gesamte Zivilbevölkerung) mit brutaler Gewalt zu drangsalieren, legt sich ein dunkler Schatten über das Leben aller...
„Mes – Lauf" ist kein Film, der sich durch eine komplexe Handlung oder ein hohes Tempo definiert. Abdi lässt sich Zeit, das detailverliebt geschilderte Leben in Nuseybin in all seiner Ruhe wirken zu lassen. Langsam passt sich der Film im Laufe seiner Spielzeit dem stetigen Schritt des urigen Schrates Xelilo an. Es ist die Dramaturgie eines Spaziergangs, von dem man nicht weiß, wohin er einen führen wird und der aus schierer Träumerei begonnen wurde. In manchen Momenten fühlt sich die Freundschaft zwischen Cengo und Xelilo an wie jene in Takeshi Kitanos verträumtem Sommermärchen „Kikujiros Sommer". Bloß die Vorzeichen sind gänzlich andere. Der Terror der türkischen Militärs gegen die kurdische Landbevölkerung wird in all seiner Härte dargestellt. Er markiert das Ende einer unschuldigen Kindheit, aber sein soziokultureller und politischer Hintergrund wird dabei nicht beleuchtet.
Für einen Knaben wie Cengo kommt die Gewalt einer Naturkatastrophe gleich, die sich nicht erklären und nicht verstehen lässt. Mit einem Mal, so scheint es, ist die Zeit der Ruhe, der Späße und der Geborgenheit vorbei und auch die schwächsten Glieder der Gemeinschaft – Kinder wie Cengo oder Narren wie Xelilo - werden in den Strudel von Gewalt und Gegengewalt gezogen. Die folgenden Jahrzehnte des Terrors, der bis heute anhält, werden ausgeklammert. Jederzeit ist dabei aber klar, wie später viele von Cengos Altersgenossen mit völliger Selbstverständlichkeit in den Gegenterror abrutschen konnten, denn „Mes - Lauf" ist nicht zuletzt auch ein Film über das Säen von Hass. Die Ernte wird unvermeidlich sein. In einer späteren Szene des Films schleicht sich Cengo bei nächtlicher Ausgehsperre hinaus in die Stadt und schnell wird die „Kindergeschichte" zur Horrorstory, wenn Schüsse die Nacht aufschrecken und Soldaten mit juckendem Finger mörderische Jagd auf alles machen.
Cengo flieht unter eine Brücke nahe eines Flussarmes und sieht die Leiche eines Erschossenen an sich vorbeitreiben. Noch weiß er nicht, welcher Konflikt aus welchen Gründen dem Mann das Leben gekostet hat. Eines jedoch steht fest: Die Zeit der Sorglosigkeit ist vorbei. Wenn der Horror der Welt in die Kindheit einbricht, greifen Regisseure allerorten gerne auf Bilder surrealer, märchenhafter Scheinrealitäten zurück, über die sie sich und ihr Publikum in die Position ihrer kindlichen Helden versetzen. So hielten es Terry Gilliam, als er in „Tideland" die Verwahrlosung eines Kindes im sozialen Abseits des Hinterlandes in Szene setzte, Guillermo del Toro im Franco-Faschismus-Märchen „Pans Labyrinth" und auch Roberto Benigni, der in „Das Leben ist schön" sogar den Holocaust zur Sketchparade werden ließ, um ihn für ein Kind erträglicher zu machen.
Abdi verfolgt dagegen einen eher naturalistischen Ansatz und erzählt die Geschichte ganz unaufgeregt, aber ohne die Kargheit der Szenerie zu verschweigen. Der sehr sparsame Einsatz der Musik schraubt jede emotionale Verführung oder Bevormundung des Publikums zurück und fordert es heraus, einen eigenen emotionalen und intellektuellen Standpunkt zum Gezeigten herzustellen. Es bleibt die Einsicht, dass Krieg, Terror und jede Form staatlicher Gewalt allem ideologischen oder historischen Kontext zum Trotze vor allem eines bedeuten: das Ende aller Unschuld. Trotz bewegender und sogar komischer Spitzen bleibt in Abdis' Film ein Gefühl der Tristesse vorherrschend, das auch lange nach dem Abspann nachwirkt.
Fazit: „Mes – Lauf" ist ein forderndes kleines Stück Weltkino, das zwar eine kindliche Perspektive wählt, um von der Unterdrückung der kurdischen Landbevölkerung zu berichten, formal jedoch eher dem Realismus verpflichtet ist. Shiar Abdis Debüt ist nicht unbedingt leicht konsumierbare Kost, aber sehenswert ist es ganz sicher.