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    Große Erwartungen
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    Große Erwartungen
    Von Andreas Staben

    2012 wird der 200. Geburtstag von Charles Dickens gefeiert. Aus diesem Anlass gibt es nicht nur schicke Jubiläumsausgaben seiner Bücher, sondern auch gleich zwei neue Verfilmungen von „Große Erwartungen", dem neben „Oliver Twist" und „David Copperfield" wohl berühmtesten Roman des britischen Schriftstellers. Das Gedenkjahr wurde mit einem BBC-Dreiteiler mit Ray Winstone und Gillian Anderson eröffnet, zu seinem Abschluss folgt nun eine weitere Kino-Adaption des bereits oft verfilmten Stoffs. Unterstützt von einer prominenten Besetzung, die von den beiden mehrfach oscarnominierten Stars Ralph Fiennes („Schindlers Liste", „Der englische Patient") und Helena Bonham Carter („The King's Speech", „Fight Club") angeführt wird, legt Regie-Routinier Mike Newell eine zu großen Teilen eng an der 1861 vollendeten Vorlage orientierte Lesart vor. Trotz unbestreitbarer Qualitäten bleibt „Große Erwartungen" deutlich hinter anderen Versionen zurück und geht als solider, aber nicht herausragender Neu-Eintrag in die Dickens-Filmografie ein.

    Der Waisenjunge Pip (Toby Irvine) lebt mit seiner strengen Schwester (Sally Hawkins) und ihrem herzensguten Ehemann, dem Schmied Joe Gargery (Jason Flemyng) im Marschland an der Küste von Kent. Als er das Grab seiner Eltern besucht, wird er von einem entflohenen Kettensträfling (Ralph Fiennes) bedroht und dazu gebracht, Proviant und Werkzeug für den Flüchtling zu stehlen. Pip hält sein Versprechen, den vermeintlichen Verbrecher nicht zu verraten, der wird bald danach trotzdem eingefangen. Der Junge wiederum wird unerwartet in das Anwesen der reichen Miss Havisham (Helena Bonham Carter) bestellt, die für ihre Adoptivtochter Estella (Helena Barlow) einen Spielkameraden sucht. Pip ist von dem kühlen Mädchen bald sehr angetan und hat sie nicht vergessen, als er als junger Erwachsener (jetzt: Jeremy Irvine) überraschend großzügige Geldzuwendungen von einem anonymen Wohltäter erhält. Der spendable Unbekannte verlangt, dass Pip nach London zieht, um das Leben eines Gentleman zu führen; das Vermögen wird unterdessen von dem Anwalt Jaggers (Robbie Coltrane) und von dessen Assistent Wemmick (Ewen Bremner) verwaltet. Pip genießt das neue Leben in Reichtum und wirbt um die Gunst seines Kindheitsschwarms Estella (jetzt: Holliday Grainger), aber die soll einen anderen heiraten...

    Regisseur Mike Newell hat in seiner Karriere schon eine erstaunliche Bandbreite bewiesen, das Spektrum seiner Arbeiten reicht von der Romantik-Komödie „Vier Hochzeiten und ein Todesfall" über das Mafia-Drama „Donnie Brasco" und den vierten „Harry Potter" bis zum Abenteuer-Spektakel „Prince of Persia". Das zeigt eine bewundernswerte Vielseitigkeit, zu der auch das Talent gehört, sich ganz in den Dienst eines Stoffs zu stellen. Insofern ist Newell eine naheliegende Wahl für eine möglichst werkgetreue Literaturverfilmung und auch dem Drehbuch von David Nicholls („Zwei an einem Tag") ist anzumerken, dass versucht wurde, die Ereignisfülle des 700 Seiten dicken Romans ohne allzu grobe Eingriffe wiederzugeben. Das Bemühen, möglichst viele der zahlreichen Figuren und Handlungsstränge aufzunehmen, führt allerdings auch dazu, dass einige Aspekte sehr oberflächlich behandelt werden und ein bisschen der erzählerische Fokus fehlt, was die engagierten Schauspieler und die detailverliebte Ausstattung sowie die im besten Sinne bewegte Kameraarbeit von John Mathieson („Gladiator"), der die stürmische Natur der Küstenlandschaft mit einem London voller Schlamm und Dreck kontrastiert, nicht immer wettmachen können.

    In einem so weitschweifenden Film wie diesem bekommen einige der großen dramatischen Höhepunkte des Buches den Beigeschmack von mit groben Pinselstrichen ausgeführten Pflichtübungen. So fehlt etwa den Rückblenden, in denen die verzwickte Tragödie von Miss Havisham nacherzählt wird, schon allein aufgrund ihrer Kürze der emotionale Resonanzboden. Außerdem fügt sich die verbitterte Exzentrikerin in der Darstellung von Helena Bonham Carter ein bisschen zu gut in das Dekor eines ungelebten Lebens: Das Anwesen Satis House hat hier etwas von einem Spukschloss voller Spinnweben und Vergangenheitsresten, in dem die Zeit ganz wörtlich stehengeblieben ist - und Carter ist eine geradezu versteinerte Hausherrin, in deren Gesichtszügen kaum noch Gefühlsregungen zu erkennen sind. Hier finden die Stärken und Schwächen des Films zusammen, denn die Themen und Motive des Romans werden zwar wunderbar illustriert, aber lebendig werden sie selten. So macht etwa Holliday Grainger wie schon in „Die Borgias", „Jane Eyre" und „Anna Karenina" eine gute Figur in historischen Kostümen, aber auch die Beteuerungen Estellas, keine Gefühle zu haben und nicht lieben zu können, scheinen hier eher einer abstrakten Vorstellung als herzensbrechendem Erleben zu entspringen.

    Dass Pips Schwester eine keifende Karikatur und sein Nebenbuhler Bentley Drummle (Ben Lloyd-Hughes) ein Snob von enervierender Arroganz sein sollen, mag so ähnlich bei Dickens stehen, aber es fehlt hier der letzte Schliff, der diesen Figuren eigene Würde geben würde. Besser treffen es da Jason Flemyng („Bube Dame König grAs") als bescheidener Schmied mit dem Herz am rechten Fleck und Robbie Coltrane („Harry Potter") als umtriebiger Anwalt. Sie geben der im Film allzu pauschalen Gesellschaftskritik menschliche Zwischentöne, wie auch Ralph Fiennes, der eine gewohnt charismatische, wenn auch in ihrer Hemmungslosigkeit nicht ganz überzeugende Darbietung gibt. Der junge Jeremy Irvine in der Hauptrolle wiederum ist ähnlich wie in Steven Spielbergs „Gefährten" fast so etwas wie der Spielball eines launenhaften Schicksals. Es treibt ihn hier nicht nur von einem Ort zum anderen, sondern auch von einer Weltsicht zu einer anderen - und dennoch bleibt er immer das emotionale Zentrum des Films, was unbedingt für den Schauspieler spricht. Am Ende kommt Mike Newell nicht an die expressive Vielschichtigkeit von David Leans Klassiker „Geheimnisvolle Erbschaft" noch an den Stilwillen und die hemmungslose Emotionalität von Alfonso Cuaróns modernisierter 1998er Version mit Ethan Hawke und Gwyneth Paltrow heran, aber für alle Dickens-Fans und alle, die es werden wollen, lohnt sich ein Blick durchaus.

    Fazit: „Große Erwartungen" ist eine gediegene Neuverfilmung des Romanklassikers von Charles Dickens mit vielen Schauwerten und guten Darstellerleistungen, aber auch einigen dramaturgischen Schwächen und Misstönen.

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