Das Doppelgängermotiv hat bis heute nichts von seiner Faszination verloren. Waren es einst große Literaten wie Robert Louis Stevenson („Dr. Jekyll und Mr. Hyde"), E.T.A. Hoffmann („Die Elixiere des Teufels") oder Fjodor Dostojewski („Der Doppelgänger") , die aus der Konfrontation des Ichs mit seinem - manchmal bösen - Gegenüber eine diabolische Spannung heraufbeschwören konnten, sind es im 21. Jahrhundert häufig auch junge Filmemacher, die das Doppelgänger-Thema aufgreifen und variieren. Die Frage nach seiner wahren Identität musste sich zuletzt Sam Rockwell als einsamer Astronaut in Duncan Jones' fulminantem Regiedebüt „Moon" stellen und auch Natalie Portman hatte sich in „Black Swan" mit ihrem imaginären Janusgesicht auseinanderzusetzen. Regisseur Mike Cahill geht in seinem experimentellen Science-Fiction-Drama „Another Earth" dem „Was wäre, wenn ich mich selbst treffe..."-Gedankenspiel auf den Grund. Hier hat sogar der gesamte Planet Erde einen Wiedergänger. Auch wenn der Maßstab ungleich monumentalere Ausmaße vermuten lässt, verpackt Cahill seinen philosophischen Ansatz jedoch in einem bewegenden Zwei-Personen-Kammerspiel.
Der jungen Astrophysikerin Rhoda Williams (Brit Marling) steht die Welt offen. Sie ist intelligent, beliebt und wurde gerade an die Elite-Uni MIT aufgenommen. Mit einem Mal jedoch zerplatzen all ihre Träume. Nach einer exzessiven Party setzt sich Rhoda fatalerweise ans Steuer und konzentriert sich mehr auf den Radiosprecher als auf die Straße. Während die Stimme aufgeregt verkündet, dass ein neuer, der Erde gleichender, Planet am Himmel aufgetaucht sein soll, lehnt sich die neugierige Rhoda aus dem Fenster und baut einen brutalen Unfall. Frontal rammt sie das Auto des Musik-Professors John Burroughs (William Mapother). Während seine schwangere Frau und sein Kind noch am Ort des Geschehens sterben, fällt John ins Koma. Nach vier Jahren Gefängnis wegen fahrlässiger Tötung zieht Rhoda nach ihrer Freilassung als gebrochene Frau ohne Zukunft wieder bei ihren Eltern (Flint Beverage, Jordan Baker) ein. In ihrer Verzweiflung bewirbt sie sich schließlich um einen Platz auf einem Raumschiff, das den erdähnlichen Planeten „Earth 2" anfliegen soll. Unterdessen macht sie die Adresse des völlig zurückgezogen lebenden Witwers John aus, um sich bei ihm für ihre schreckliche Tat zu entschuldigen. Als sie den schwer gezeichneten Mann dann allerdings trifft, traut sie sich nicht mehr, ihm die Wahrheit zu sagen und bietet sich als Putzfrau an. Während Rhoda sein Haus in Schuss bringt, kommen sich die beiden langsam näher.
Die Entstehungsgeschichte von „Another Earth" ist fast so eigentümlich wie der Film selbst und erinnert ein wenig an die von Gareth Edwards‘ „Monsters". Wie Edwards stand auch Cahill für sein Spielfilmdebüt nur ein Micro-Budget von unter 200.000 Dollar zur Verfügung. Deswegen legte der Alleskönner (Regie, Drehbuch, Produktion, Kamera, Schnitt) auch den Schauplatz nach New Haven, Connecticut seiner Heimat. Hier konnte er alte Freunde zur (kostengünstigen) Mitarbeit überreden und einige Szenen in seinem früheren Zuhause drehen. Hauptdarsteller William Mapother („Lost") arbeitete für 100 Dollar täglich, weil ihm das Script so gut gefiel. Die zwangsläufige Beschränkung der Mittel macht sich natürlich im Science-Fiction-Aspekt der Geschichte bemerkbar. Auf Spezialeffekte verzichtet Cahill in „Another Earth" nahezu völlig. Nur die im Laufe des Films immer größer werdende zweite Erde sticht aus dem Realismus-Konzept heraus. Um dennoch den Mystery-Faktor nicht völlig auszublenden, verlässt sich Cahill wie schon Edwards auf die mediale Vermittlung des astronomischen Phänomens. Immer wieder unterbrechen Radio- bzw. TV-Berichte über „Earth 2" (nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen TV-Serie) die Handlung, um für eine unwirtliche Atmosphäre zu sorgen. Zudem setzt Cahill den renommierten Astrophysiker Dr. Richard Berendzen als kommentierenden Voice-Over-Erzähler ein. Trotz dieser dramaturgischen Mittel bleibt der Science-Fiction-Aspekt eher im Hintergrund. Vielmehr stellt er die Triebfeder für die Handlungsweise der zwei Protagonisten dar.
Im Vordergrund des auf dem Sundance Festival mehrfach ausgezeichneten Dramas steht das komplexe Charakterporträt von Rhoda Williams - wenig verwunderlich, immerhin hat Hauptdarstellerin Brit Marling auch am Drehbuch mitgeschrieben und mitproduziert. Manchmal erscheint die zarte Liebesgeschichte zweier schicksalhaft miteinander verbundener Figuren wie eine Talentprobe für die großartige Nachwuchsdarstellerin Marling, der in Hollywood nach diesem Auftritt alle Türen offen stehen. Ähnlich wie „Winter's Bone" für Jennifer Lawrence, könnte „Another Earth" den Durchbruch für Marling bedeuten. Bereits jetzt hat sie den Thriller „Arbitrage" mit Richard Gere und Susan Sarandon abgedreht, und auch Robert Redford war von der hübschen Newcomerin so begeistert, dass er sie für sein neues Werk „The Company You Keep" besetzte. Die Vorschusslorbeeren sind vollauf gerechtfertigt. Überzeugend verkörpert sie in eine verletzliche Frau, die verzweifelt nach Erlösung von ihrer Schuld sucht. Die plötzlich auftauchende zweite Erde ist letztlich das Bild gewordene Symbol für die Seelenlandschaft ihrer Figur. „Earth 2" erinnert Rhoda an ihr schlimmstes, nicht mehr rückgängig zu machendes Vergehen, und ist für sie auch die letzte Hoffnung auf eine Flucht vor ihrer dunklen Vergangenheit. In einem kleinen Hinweis stellt der Film die Möglichkeit in Aussicht, dass sie auf „Earth 2" einer anderen Rhoda begegnen könnte, die nie an einem tödlichen Unfall beteiligt war. Während Cahill immer wieder mit diesen Schicksals- und Zufallsvariablen spielt, konzentriert er sich im Laufe der Handlung besonders auf die irdische Seelenheilung von Rhoda und John. Diese deutet er damit an, dass ausgerechnet Rhoda den verschlossenen, trauernden Witwer mit Charme und ihrer Fähigkeit zum Zuhören wieder ins (Liebes-)Leben zurückholt. Die schwierige Annäherung könnte leicht ins tränennasse Auge gehen, aber dank stimmiger Dialoge und einem starken Darstellergespann umschifft der Film bis auf ein, zwei Ausrutscher alle Kitsch-Klippen.
Formal musste sich das schmale Budget bei „Another Earth" fast zwangsläufig bemerkbar machen. Nicht zuletzt aus eben jenen finanziellen Gründen wählte Cahill für die meisten Szenen – mit Wackel-Handkamera und dem Verzicht auf künstliches Licht – einen dokumentarischen Ansatz. Nur seine elegisch-traumwandlerischen Zeitlupen-Aufnahmen, die manchmal an Gus Van Sants experimentellere Produktionen wie „Paranoid Park" erinnern, wirken streckenweise prätentiös und verkünstelt, und fallen aus dem ästhetischem Konzept. Viele Bilder seines mysteriösen, zahlreiche Fragen bewusst offen lassenden Kammerspiels, sind dennoch von großer Schönheit. So, wenn Rhoda mit trauriger Selbsterkenntnis „Earth 2" betrachtet und ihre Haare dabei im Wind flattern, sie sich splitternackt selbstmörderisch im Schnee wälzt, oder wenn John wieder zur Musik findet und für Rhoda eine Säge zum Singen bringt. In Momenten wie diesen strotzt Cahills Spielfilmdebüt vor poetischer Kraft, die anrührt und lange nachwirkt.
Fazit: „Another Earth" ist ein weiteres Beispiel dafür, wie man mit wenig Geld, aber mit vielen Ideen einen gelungenen Indie-Film drehen kann.