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    Das Schwein von Gaza
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Das Schwein von Gaza
    Von Tim Slagman

    Eine englische Redewendung besagt übersetzt: Der Weg zur Hölle ist gepflastert mit guten Vorsätzen. Sie würde eine passende Überschrift für Sylvain Estibals „Das Schwein von Gaza" abgeben – denn in kaum einer zeitgenössischen Krisensituation gehen gute Absichten so oft mit fatalen Folgen einher wie im Nahostkonflikt, an dem sich der französische Regisseur mit seinem Debütfilm abarbeitet. Schon 2004 hat Estibal als Fotojournalist eine palästinensische und eine jüdische Familie in Hebron porträtiert, nun wagt er sich auf das dünne Eis der Völkerverständigungskomödie. Die erste Filmhälfte ist dabei noch ziemlich zäh und allzu gefällig geraten. Doch je näher „Das Schwein von Gaza" der Auflösung kommt, je respektloser und schwärzer Estibals Humor dabei wird und je weiter der Regisseur sich vom politisch Korrekten sowie vom naiven Pseudorealismus verabschiedet, desto sicherer werden seine Schritte und desto schärfer formuliert er seine Botschaft.

    Der palästinensische Fischer Jafaar (Sasson Gabay) lebt mehr schlecht als recht von dem, was die See ihm überlässt. Obendrein dient das Dach seines Hauses der israelischen Armee auch noch als Wachposten. Doch den scheinbar größten Schicksalsschlag erlebt Jafaar, als er eines Tages ein lebendes Schwein aus dem Wasser zieht. Was tun mit dem Tier, das sowohl den Muslimen, als auch den orthodoxen Siedlern in der Nachbarschaft als unrein gilt? Weder will es der deutsche UN-Beamte Schauerland (Ulrich Tukur) noch bringt Jafaar es übers Herz, das Schwein zu töten. Dann hört er von einem heimlichen Zuchtprojekt in der Siedlung – dumm nur, dass die junge Siedlerin Yelena (Myriam Tekaïa) weniger an dem Tier selbst als vielmehr an dessen Sperma interessiert ist...

    Betulich, sehr betulich geht Estibal seine Geschichte an, zu Beginn blitzt nur ganz gelegentlich auf, dass es hier um mehr gehen könnte als um eine bisweilen etwas holprige Milieustudie. Ein solcher Moment ist der überraschend exzessive und herrlich schrankenlos von Ulrich Tukur gespielte Wutanfall, der in seiner Anarchie wie ein erfrischendes Gewitter über Jafaar und die Kinozuschauer hereinbricht. Die Szene zeigt die Hilflosigkeit des Einzelnen inmitten von Gewalt und Bürokratie – ganz in diesem Sinne beschreibt Estibal selbst seinen Film als einen „vom Lachen erstickten Wutschrei". Dazu passen die Bilder von mit Stolz dekorierter Armut, die Kameramann Romain Winding („Leb wohl, meine Königin!") mit schöner Beiläufigkeit einfängt. Das lehmige Äußere, die unverputzten Wände in Jafaars Haus und die schlichten technischen Utensilien stehen in einem starken Kontrast zu den kleinen Verzierungen, zu den farbigen Tüchern, die man sich um Hals und Haar schwingt, oder zu den alten Fotos im Salon des freundlichen Friseurs (Gassan Abbas). Die Menschen, so zeigt es der Film, haben sich mit viel Mühe, Kraft und Phantasie gewappnet gegen den grauen Alltag, der sie umschließt.

    Der bitteren Realität setzt Sylvain Estibal seine Völkerverständigungsbotschaft zuweilen mit dem Holzhammer entgegen. So kommt es etwa zu einem Kontakt zwischen einem der israelischen Wachsoldaten und Jafaars Frau Fatima (Baya Belal) – und zwar ausgerechnet über eine Telenovela, die beide so gerne anschauen. Es ist kein Hauch von Ironie zu spüren angesichts des Umstandes, dass es dieser lebensfremde Kitsch sein soll, der den verfeindeten Parteien einen Moment der Eintracht schenkt – vielmehr wird hier die fast etwas naive Warmherzigkeit spürbar, mit der Estibal von diesen schwierigen Lebensbedingungen erzählt.

    Im späteren Filmverlauf gewinnt „Das Schwein von Gaza" an Fahrt und Stringenz, nicht zuletzt dadurch, dass sich der Regisseur endlich den heikleren Themen zuwendet und sich in Bereiche vorwagt, in denen man nicht so leicht Zustimmung erntet wie mit einem Plädoyer zur Völkerverständigung: Wie kommt man an Schweinesperma? Wie entgeht man der angeblich heiligen Verpflichtung, zum Märtyrer, sprich: Selbstmordattentäter, werden zu müssen? Derartige Fragen vertieft Estibal auf der Zielgeraden seines Films mit klugem Witz und ohne Respekt vor politischen und sozialen Dogmen, dafür aber mit umso mehr Achtung vor den Menschen, die in ihnen festhängen.

    Fazit: Mit „Das Schwein von Gaza" ist Sylvain Estibal trotz eines gemächlichen Auftakts und gelegentlicher Holzhammer-Pädagogik ein so respektvoller wie satirisch scharfer Kino-Kommentar zum Nahost-Konflikt gelungen.

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