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    Herbstgold - Wettlauf gegen die Zeit
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    2,5
    durchschnittlich
    Herbstgold - Wettlauf gegen die Zeit
    Von Sascha Westphal

    Die großen Medien nehmen die alle zwei Jahre stattfindenden Senioren-Leichtathletik-Weltmeisterschaften kaum wahr. Trotz einer unglaublichen Anzahl von Wettbewerben – in jeder Disziplin treten die Teilnehmer je nach ihrem Alter in entsprechenden Gruppen an – und der damit verbundenen Medaillenflut – bei der WM 2009 im finnischen Lahti haben die deutschen Athleten alleine 99 Goldmedaillen gewonnen und waren trotz allem nur zweite im Medaillenspiegel – sind diese Wettkämpfe einfach nicht massenmedien-tauglich. Sie eigenen sich natürlich hervorragend für die so genannten Human-Interest-Stories, aber nicht für Sportübertragungen und große Sport-Specials. Insofern füllt Jan Tenhaven mit seiner Dokumentation „Herbstgold – Wettlauf gegen die Zeit" ohne Frage eine mediale Lücke aus. Selbstverständlich setzt er auch vor allem auf den Human-Interest – diesen Weg zwingt ihm das Genre des Dokumentarfilms schließlich regelrecht auf. Zugleich weist seine Doku aber immer auch über die einzelnen porträtierten Sportler hinaus und rückt eine Welt des Sports in den Fokus der Aufmerksamkeit, die ihre ganz eigenen Gesetze und Dramen hat.

    Die Senioren-Weltmeisterschaften sind ein Fixpunkt im Leben der 85-jährigen Kugelstoßerin Ilse, der italienischen Diskuswerferin Gabre, die ihr Alter beharrlich verschweigt, nur das es dann am Ende von einer ihrer Konkurrentinnen ausgeplaudert wird, dem 82-jährigen Hochspringer Jiri, dem 93-jährigen 100-Meter-Läufer Herbert und dem 100-jährigen Diskuswerfer Alfred. Sie alle treiben ihren Sport schon seit Jahrzehnten. Einige von ihnen haben schon in den 30er Jahren an großen Wettkämpfen teilgenommen, andere haben den (Leistungs-)Sport erst im Alter für sich entdeckt. Doch eines ist den fünf gemeinsam: Jeder von ihnen wird von dem unstillbaren Ehrgeiz getrieben, in seiner Disziplin der Beste zu sein. Dafür nehmen sie alle nur erdenklichen Strapazen auf sich. Sie brauchen diese Anstrengungen, diesen täglich neu ausgetragenen Kampf gegen den eigenen Körper, der längst nicht mehr so will wie einst. Sie geben ihrem Leben eine Richtung. Ohne das ständige Training und die Gedanken an die großen Wettkämpfe wäre da eine Leere, die durch nichts ausgefüllt werden könnte.

    Jan Tenhaven hat die fünf Sportlerinnen und Sportler auf ihrem Weg zur WM im Sommer 2009 in Lahti begleitet. Immer wieder zeigt er sie bei ihren Trainingseinheiten und in ihren Wohnungen. Dabei erzählen sie ganz entspannt von ihren Mühen mit dem Sport und von ihrem Leben. So offenbaren sich nach und nach biographische Splitter, in denen sich ungeheuer reiche, aber oft auch sehr widersprüchliche Lebensgeschichten offenbaren. Der 100-jährige Österreicher Alfred Proksch hat Zeit seines Lebens als Zeichner und Maler gearbeitet. Seine Skizzen und Bilder, die meist dem weiblichen Körper gewidmet sind, präsentiert er dem Filmemacher voller Stolz und zeichnet sich dabei augenzwinkernd selbst als Wiener Don Juan. Der Sport wird in diesen Momenten beinahe zur Nebensache.

    Ganz so offen zeigen sich die anderen vier nicht. Gabre und Jiri gehen noch am meisten aus sich heraus, wenn sie über ihren Sport sprechen oder im Training. In gewisser Weise sind sie aber auch die beiden, die am stärksten in sich selbst ruhen. Ihr Leben und die Leichtathletik lassen sich allem Anschein nach kaum voneinander trennen. Sie sind im Lauf der Zeit eins geworden. Nach diesem perfekten Gleichgewicht suchen auch die in Kiel lebende Witwe Ilse, die nach dem Tod ihres Mannes Halt im Sport gesucht hat, und der extrem erfolgsorientierte Schwede Herbert. Einmal konnte Jan Tenhaven den 100-Meter-Läufer bei einem Abstecher zu seiner Familie begleiten. Das Sommerhaus, in dem nun sein Sohn und dessen Familie leben, war einst Herberts Domizil. Gerade in diesen Momenten scheint noch eine andere Geschichte hinter der des sich nach Erfolgen und Medaillen verzehrenden Sportlers auf: die eines alten, einsamen Mannes, der sich von seiner Familie entfremdet hat.

    Diese Spuren ganz anderer Erzählungen und Biographien durchziehen „Herbstgold" regelrecht. Jeder der fünf hätte durchaus auch seinen ganz eigenen Film haben können. Doch Jan Tenhaven begnügt sich mit kleinen Andeutungen und einer Menge offener Fragen. Nun muss ein Dokumentarfilmer auch nicht alles vor seinem Publikum ausbreiten und erklären. Das kann sich sogar als kontraproduktiv erweisen. Doch in diesem Fall hätte ein wenig mehr Tiefe durchaus ihren Sinn gehabt. Trotz all der wunderbaren Momente, in denen er die unglaubliche Energie und den beeindruckenden Willen seiner Protagonisten greifbar macht, und auch trotz all der kleinen Einsichten, die Tenhaven seinem Publikum gewährt, wenn er etwa zeigt, wie der Tscheche Jiri während der WM in einer Turnhalle auf einer Matratze auf dem Boden schläft, bleibt seine Dokumentation seltsam unverbindlich. Alle haben große Teile des 20. Jahrhunderts erlebt und als (Leistungs-)Sportler an einer Welt teilgehabt, die den meisten Menschen verschlossen bleibt. Doch gerade diese zeitgeschichtlichen Aspekte blendet der Film ganz aus. So reduziert er sich auf seinen Human-Interest-Charakter und verschenkt damit alle anderen Möglichkeiten.

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