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    Ghetto
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    Ghetto
    Von Nicole Kühn

    Krisenhafte Extremsituationen bieten oft die beste Bühne für große menschliche Dramen. Die Umstände sind geradezu ideal, um Tragik in ihrer ganzen Tiefgründigkeit zu zeigen: der oder die Protagonist(in) handelt moralisch schlecht, ohne eine andere Möglichkeit zu haben oder um noch größeres Unheil zu vermeiden. Auf der anderen Seite bringen Extremsituationen die Charakterzüge der Menschen schonungslos ans Tageslicht. Von beidem erzählt das Historien-Drama „Ghetto“, das auf dem erfolgreichen Theaterstück gleichen namens basiert und wiederum selbst von der Macht des (Schau)Spiels lebt.

    Der junge Regisseur Audrius Juzenas legt großen Wert auf Authentizität. Seine Adaption übernimmt wesentliche Elemente des Theaterstücks für den Film. Das kann er sich leisten, weil ein Großteil der ausschlaggebenden Szenen ohnehin auf einer Bühne spielt, die es im historischen Ghetto von Vilna tatsächlich gab. An die realen Schauplätze hat es ihn für die Inszenierung seines Films mit vielen Musical-Anklängen gezogen, um eine authentische Atmosphäre zu erzeugen.

    1941: Die deutsche Armee hat auf ihrem Vormarsch nach Osten Litauen erreicht und in der Stadt Vilna eines der größten jüdischen Ghettos errichtet. Uneingeschränkter Herrscher über Leben und Tod, Freud und Leid ist der Nazioffizier Kittel (Sebastian Hülk). Mit seinen 22 Jahren hat er eine Kälte und einen Machtinstinkt entwickelt, dessen Grausamkeit kaum Grenzen kennt. Gleichzeitig ist er ein durchaus feinsinniger Kunstliebhaber. Seine Intelligenz lässt diese Mischung zu einem unberechenbaren Gebräu werden. Wie ein Puffer zwischen den unvorhersehbaren Aktionen Kittels und der eingepferchten Bevölkerung fungiert Kommandant Gens (Heino Ferch), der Chef der jüdischen Polizei. Seine Menschenkenntnis und sein Weitblick erlauben es ihm, zu Kittel ein auf „geschäftlicher“ Ebene fast vertrauensvolles Verhältnis aufzubauen und sich dadurch gewisse Freiheiten bei seiner Amtsausübung zu erwerben. Scharfsichtig erkennt er Kittels verwundbare Punkte und setzt zielgenau dort an. Die schöne Sängerin Haya (Erika Maorzsán) hat bei dem kaltschnäuzigen Offizier etwas berührt, das darauf hoffen lässt, dass auch dieser Mensch ein Herz hat. Schnell ist die Idee geboren, ein Theater in der Stadt zu etablieren, das einerseits als Arbeits- und damit Zufluchtsort für Juden dient und andererseits den launischen Vertreter der Nazis bei Laune hält. Ein Wettrennen mit der Zeit beginnt, denn mit zunehmender Bedrängnis der deutschen Truppen an der Ostfront rückt auch die Befreiung Vilnas immer näher. Andererseits werden die Deutschen mit jedem Verlust an der Front nervöser und dringen darauf, die Idee der Endlösung umzusetzen, bevor die okkupierten Gebiete befreit sind…

    Juzenas Film entwirft wie das zugrunde liegende Theaterstück von Joshua Sobol anhand einer historischen Begebenheit eine Parabel über die vielfältigen Formen der Kommunikation und deren Möglichkeiten, Unsagbares auszudrücken. Neben der Bühne als Raum für mehr oder weniger offene Kritik im Gewand eines Schauspiels nimmt hier vor allem das Bauchredner-Pärchen Srulik (Andrius Zebrauskas) und Lina (Maragrita Ziemelyte) die Aufgabe in die Hand, durch bis an die Grenzen der Beleidigung freche Komik eine höchst angespannte Situation durch ein Lachen zu entschärfen. Ob und in wieweit diese Form der Überredungskunst über den Kanal einer öffentlichen Bühne funktioniert, ist eine der spannendsten Facetten dieses Theaters auf der Leinwand. Die Spannung resultiert aus der Unberechenbarkeit der Charaktere, allen voran des Offiziers Kittel, dem Hülk beeindruckend Züge verleiht, die zwischen genialer Berechnung und irrwitziger Besessenheit schwanken. Die Entsprechung zu seinem inneren Zwiespalt findet Kittel in Kommandant Gens, der als Chef der jüdischen Polizei oft hart durchgreift, um dadurch seine Fähigkeit unter Beweis zu stellen, für Ruhe und Ordnung im Ghetto sorgen zu können. Nur so behält er sich einen Freiraum, der von den Nazis weitgehend unkontrolliert bleibt. Dass beide lieber an einem anderen Ort zu einer anderen Zeit ihr Leben fristen würden, genügt indes nicht, um wirklich freundschaftliche Gefühle aufkommen zu lassen. Das Abkommen zwischen den beiden Männern beschränkt sich darauf, dem anderen nicht unnötige Schwierigkeiten zu bereiten. Die Gewissensqualen spiegeln sich in Heino Ferchs Gesicht, geben aber kaum einen Hinweis darauf, was für ein Mensch Gens in einer anderen Situation wäre. In dieser Hinsicht erscheint die Figur des Offiziers Kittel fast tragischer, da hinter der gnadenlosen Fassade immer wieder ein feinfühliger Mensch erkennbar wird.

    Abseits dieser zwischen Hass und Verständnis changierenden Männerbeziehung legen die Figuren leider recht undifferenzierte Charaktere an den Tag: die Nazis sind völlig gefühllose Henker, die sich am Leid ihrer Opfer weiden wie die Katze an der Maus. Und die Juden sind (bis auf wenige Ausnahmen) bei aller Geschäftstüchtigkeit mitfühlende, gebildete Menschen mit großem Hang zur Demut. Eine Sonderrolle kommt der schönen Haya zu, die ihre erotisch begründeten Chancen auf eine Machtposition gegenüber Kittel stolz verstreichen lässt. So bleibt trotz einiger löblicher Ansätze der Konterkarierung die Rollenverteilung zwischen Täter und Opfer eine gängige und lässt den Film als das erscheinen, was er auch ist: Teil des nationalen Litauischen Gedenkprogramms. Als solcher weist er die eine oder andere dramaturgische Schwäche auf. Die Vitalität, die das Theaterstück mit seinen vielen Gesangsparts und den Choreographien ausstrahlt, kann der Film trotz der intensiven Darsteller nicht zu 100 Prozent in den Kinosaal transportieren. So bleibt ein atmosphärisch gelungenes Dokument über eine Zeit, die manch einer gerne vergessen würde, die sich jedoch zu Recht fest ins kollektive Gedächtnis eingebrannt hat.

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