In 60 Jahren wird kaum noch jemand wissen, wer auf der Berlinale 2010 alles über den roten Teppich geschlendert ist. Es werden vielmehr die Filme selbst sein, die die Jahrzehnte überdauern. Trotzdem ist die Berlinale in den vergangenen zwei Jahren – wie soviele andere Festivals auch – dem Versprechen des flüchtigen Scheins erlegen. Natürlich haben Martin Scorseses Shine A Light und Tom Tykwers The International Stars wie die Rolling Stones oder Clive Owen in die Hauptstadt gespült, aber als die Filme dann regulär im Kino gestartet sind, haben sie kaum noch jemanden interessiert. In diesem Jahr nun, in dem die Berlinale ihren 60. Geburtstag begeht, ist das Festival anlässlich des Jubiläums selbst Attraktion genug, so dass es den Machern um Direktor Dieter Kosslick wohl nicht allzu schwer gefallen sein dürfte, endlich mal wieder ein Risiko einzugehen. Mit der Aufführung des chinesischen Familiendramas „Apart Together“ von Wang Quanan, der 2006 mit Tuyas Hochzeit bereits einen Goldenen Bären einstreichen konnte, hat sich das Festival diesmal keine internationalen Topstars angelacht, bietet dafür aber einem kleinen, sehr feinen Film jene mediale Aufmerksamkeit, die er allein aufgrund seiner Qualität (und nicht aufgrund bekannter Namen) verdient.
1949 wurde die Inselrepublik Taiwan von der Volksrepublik China abgespalten. Soldaten wie Liu Yansheng (Ling Feng), die damals gegen die kommunistischen Truppen kämpften und schließlich nach Taiwan fliehen mussten, war der Besuch des chinesischen Festlands seither verboten. Erst jetzt, mehr als 50 Jahre danach, wurde den ersten Veteranen erlaubt, zum Zwecke einer Familienzusammenführung nach Schanghai zu reisen. Hier trifft Liu auf Qiao Yu’e (Lisa Lu, 2012), die er einst schwanger zurücklassen musste. Qiao hat, um als Geliebte eines feindlichen Soldaten in den Wirren der Kulturrevolution nicht total unterzugehen, längst Lu Shanming (Xu Caigen), einen Unteroffizier der kommunistischen Armee, geheiratet und mit ihm weitere Kinder großgezogen. Liu will Qiao mit zu sich nach Taiwan nehmen und Lu stimmt diesem ungewöhnlichen Anliegen sogar zu. Er liebt Qiao viel zu sehr, als dass er ihr das späte Liebesglück nicht gönnen würde. Trotzdem nimmt die anstehende Trennung von Qiao ihren Noch-Ehemann so sehr mit, dass er einen Gehirnschlag erleidet…
In Sachen Dreieckskonstellationen machen es Hollywood-Produktionen ihrem Publikum in der Regel recht einfach. Steht eine Frau zwischen zwei Männern, dann wird der Zuschauer schon irgendwie dazu gebracht, einem der beiden die Daumen zu drücken – etwa indem sich einer der Männer als ziemlicher Arsch entpuppt. Doch „Apart Together“ stammt nicht aus der Traumfabrik und Wang Quanan macht es dem Publikum ebenso schwierig wie seinen Protagonisten. Qiao liebt Liu zwar auch nach 50 Jahren noch, doch hat sie Lu viel zu verdanken, der einst seine politische Karriere und damit jeglichen Wohlstand für sie aufgegeben hat.
Auch die Beziehung der beiden Männer, die hier immerhin um dieselbe Frau „kämpfen“, ist unerwartet herzlich und von gegenseitigem Respekt geprägt. Lu möchte unbedingt, dass seine Frau mit nach Taiwan geht, auch wenn ihm dies das Herz brechen würde. Liu hingegen will zwar auf Qiao nicht verzichten, ist im Gegenzug aber bereit, Lu all sein Geld als Wiedergutmachung zu überlassen. Für diese Konstellation gibt es keine Märchenlösung, bei der alle glücklich bis ans Ende ihrer Tage leben. Nein, es gibt noch nicht einmal eine Konstellation, die man als Zuschauer der anderen vorziehen würde. Doch diese fehlende Möglichkeit eines Happy Ends heißt noch lange nicht, dass die Protagonisten Trübsal blasen würden. Stattdessen sitzen sie zusammen, trinken Reiswein und singen Lieder aus früheren Tagen, ohne dabei wehmütig zu werden. Müsste Liu nicht zurück nach Taiwan, würde man diesem Trio direkt zutrauen, fortan einfach zu dritt zusammenzuleben.
Genau wie es für Qiao bei der Wahl zwischen Liu und Lu kein „Richtig“ oder „Falsch“ gibt, trifft diese alle Möglichkeiten offenhaltende Ambivalenz auch auf das Schanghai-Bild zu, das der Film im Fortlauf der Handlung entwirft. Zu Beginn lebt Qiao in einem halb verfallenen Haus – vieles ist kaputt, aber es ist heimelig, die Familie kommt gerne zu Besuch. Später zieht sie gemeinsam mit Lu in ein Appartement in einem neu errichteten Wolkenkratzer – alles ist modern und sauber, aber auch steril, die gemeinsamen Familienessen werden seltener. Hier werden Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Schanghais auf den Punkt gebracht, ohne dabei ein abschließendes Urteil zu fällen. Denn egal ob die Wolken kitzelnder Appartementkomplex oder verfallene Hütte, mit einer grandiosen Szene macht Wang Quanan deutlich, dass selbst in einer Multimillionenmetropole wie Schanghai immer noch die Menschen selbst im Mittelpunkt stehen sollten: Bei einer Bustour durch die Stadt, bei der die Touristenführerin vollmundig die Höhen und Längen der Prachtbauten anpreist, bleibt die Kamera starr auf die Reisenden gerichtet, die aus dem Staunen gar nicht mehr herauskommen, wenn sie abwechselnd links und rechts aus dem Fenster starren.
Fazit: Mit „Apart Together“ ist Wang Quanan ein rührender, humorvoller und sehr weiser Film über die universellen Themen Liebe, Familie und Heimat gelungen. Zudem besitzt „Apart Together“ aber auch eine ganz spezielle Note: In beiläufig anmutenden Einstellungen beschreibt Quanan den Umbruch Schanghais zu einer modernen Megametropole, ohne dabei den alten Zeiten allzu sehr nachzutrauern oder dem Fortschrittswahn blind zu verfallen.