Wer erinnert sich nicht an Julia Roberts als Straßenprostituierte in „Pretty Woman" oder auch an ihre White-Trash-Anwaltsgehilfin in „Erin Brockovich"? Mit der einen Rolle schaffte sie den großen Durchbruch, für die andere gab's den Oscar – nach streng realistischen Maßstäben sind beide Auftritte aber nicht eine Sekunde glaubwürdig. Es ist die besondere Qualität von Superstars wie Roberts, dass sie uns für zwei Kinostunden mit Charme und Charisma von einer Hollywood-Wirklichkeit überzeugen, die mit dem tristen Alltag wenig zu tun hat. Bei der Besetzung einer chaotischen Ex-Stripperin, die durch Bauernschläue zur Sportwettenkönigin aufsteigt, würde ein in erster Linie auf sozialen Realismus bedachter Regisseur auch wohl kaum die britische Edelmimin Rebecca Hall („Vicky Cristina Barcelona", „Frost/Nixon") engagieren. Auch Hall ist ihre Rolle in Stephen Frears‘ Feel-Good-Komödie „Lady Vegas" in diesem Sinne nicht ansatzweise abzunehmen, aber trotzdem versprüht sie so viel Charme und gute Laune, dass es für flotte Unterhaltung reicht.
Beth Raymer (Rebecca Hall) ist es leid, sich in Florida als Stripperin durchzuschlagen, weil ihr die lüsternen Klienten zu unheimlich werden. Ihr neuer Traum: Sie will in Las Vegas als Cocktailkellnerin Karriere machen. In der Spielerstadt angelangt, wird sie aber stattdessen von ihrer Freundin Holly (Laura Prepon) an den Sportwetten-Unternehmer Dink Heimowitz (Bruce Willis) vermittelt, der gerade eine neue Mitarbeiterin für sein kleines Wettbüro sucht. Obwohl Beth mit ihrer offenherzigen Dirnenkluft rein optisch nicht in den beschaulichen Betrieb passt, zu dem neben dem soliden Dink noch seine Kollegen Darren (Joel Murray) und Frankie (Frank Grillo) gehören, mausert sie sich zu einer echten Hilfe. Beth ist zwar simpel gestrickt, hat aber ein phänomenales Zahlengedächtnis, was in der Sportwettenbranche natürlich ein Geschenk ist. Sie himmelt ihren neuen Chef nicht nur an, sondern schmeißt sich mit allem, was sie an Reizen hat, an ihn heran – sehr zum Missfallen von Dinks extrem eifersüchtiger Ehefrau, der berüchtigten Tulip (Catherine Zeta-Jones). Als Beth es mit der unverhohlenen Baggerei übertreibt, sorgt die rigorose Tulip dafür, dass Dink seine äußerst fähige neue Allzweckwaffe feuert...
Als der renommierte Filmkritiker David Thomson 2010 bei den Filmfestspielen von Berlin die Retrospektive „60 Jahre Berlinale – Play it again" organisierte, nahm der Brite auch die umstrittene Jeckyll-And-Hyde-Verfilmung „Mary Reilly" (mit Julia Roberts) von Stephen Frears in das Wiederaufführungsprogramm auf. Zu einem Publikumsgespräch lud er gleich noch Frears selbst ein und erklärte dem interessierten Publikum ausführlich, warum „Mary Reilly" trotz aller vermeintlichen Unzulänglichkeiten so genial sei. Frears, der von der schwierigen Produktion und Finanzierung des 1996 entstandenen Films arg gebeutelt wurde, guckte etwas verdutzt und entgegnete, dass er in seiner Karriere sowieso selten genau wisse, was er eigentlich tue! Das ist natürlich typisch britisches Unterstatement und Koketterie, aber die Aussage wirft auch ein bezeichnendes Licht auf Frears‘ Art des Filmemachens.
Frears war nie daran interessiert, sich auf ein Genre zu spezialisieren und lässt sich bei der Projektauswahl von seiner Neugier treiben – vom komisch angehauchten britischen Sozialdrama („The Snapper", „Fish & Chips") über gediegenes Historienkino („Gefährliche Liebschaften", „Die Queen") bis zur federleichten Komödie („Immer Drama um Tamara", „High Fidelity"). Bei aller Unterschiedlichkeit ist allen Frears-Filmen eines doch immer gemein: präzise gezeichnete, markante Figuren - die bietet auch „Lady Vegas". Und Frears wäre nicht Frears, wenn er der Geschichte nicht noch eine Besonderheit verpassen würde: Er nimmt sich ein reales Vorbild („Lady Vegas" ist die Verfilmung der Autobiografie der Journalistin Beth Raymer, die sich ihren Weg in den Beruf über Strippen und Sportwetten bahnte), gibt seinem Werk aber eine märchenhafte Dimension – sein Las Vegas scheint tatsächlich in einem Paralleluniversum zu existieren.
Die Legitimation des Films mit dem Siegel der „wahren Begebenheit" wird von Frears ironisch ad absurdum geführt und doch dient sie gegenüber Skeptikern als Feigenblatt – niemand kann dem Regisseur diese Story als hanebüchen um die Ohren donnern – denn Beth Raymer gibt es wirklich. Warum diese Volldampf-Lebenskünstlerin nun gerade von Rebecca Hall gespielt wird, leuchtet nicht auf den ersten und auch nicht auf den zweiten Blick ein, ist wohl aber der Hartnäckigkeit der Britin zu verdanken, die den anfangs skeptischen Frears schließlich überzeugte. Und wer sie nun auf der Leinwand sieht, dem geht es ähnlich. Irgendwann ist vergessen, dass die großartige Rebecca Hall, die lange in London Theater spielte, bevor sie ernsthaft ins Filmgeschäft einstieg, theoretisch eine krasse Fehlbesetzung für die hemdsärmelige, bauernschlaue Beth Raymer ist - und im Vergleich auch viel zu hübsch. Hall ist eben so gut und charmant, dass man ihr gern zusieht, wie sie den Sportwettenbetrieb in Las Vegas aufmischt – das macht einfach Laune und wieder einmal schafft das Kino eine eigene Wirklichkeit.
Auch Bruce Willis, dessen Rollenwahl zuletzt nicht immer glücklich wirkte („Set Up", „Catch .44"), überzeugt nach seinem tollen Auftritt in „Moonrise Kingdom" ein weiteres Mal und offenbart eine ganz neue Facette an sich. Sein geschmacksfreies Freitzeithemd-Outfit wird perfekt durch die weit hochgezogenen weißen Tennissocken flankiert und schreit aus jeder Faser: Spießer! Aber dieser Dink ist die gute Seele der legalen Sportwettenszene und so ehrlich, dass die begeisterte Beth nicht von seiner Seite weicht. Willis‘ Spießbürger ist moralisch trittsicher und (trotzdem) sympathisch. Die Figur ist sogar weit nuancierter ausgearbeitet als die Protagonistin Beth. Nach einer holprigen Einführung im Superschnellverfahren werden auch die weiteren Schritte in ihrer rasanten Entwicklung vom White-Trash-Las-Vegas-Strandgut zur Koryphäe des Sportwettens im Sauseschritt durchgehuscht, ehe pro forma noch ein sanft-dramatisches Tal durchlaufen werden muss. Am Ende der Erklärungskette steht immer, „weil sie so gut mit den Zahlen ist". Während einige Nebenfiguren (Freundin Holly, die Wettbürokollegen Darren und Frankie) für mehr oder weniger reizvollen dramaturgischen Füllstoff sorgen, erwischt Catherine Zeta-Jones („Chicago", „Rock of Ages") dieses Mal die undankbarste Rolle. Ihre kolossale Kratzbürste Tulip ist nah an der Karikatur, nur um später aus dem Nichts zur Gutfrau zu mutieren.
Las Vegas ist nicht nur eine eigene Welt von bizarrer Faszination, sondern auch ein grandioser Schauplatz, den schon so mancher Filmemacher für sich zu nutzen wusste - Todd Phillips etablierte das Spielerbabylon in „Hangover" zum Beispiel fast schon als eigenen Charakter, der die Komödie unheimlich bereicherte. In Stephen Frears‘ „Lady Vegas" kommt jedoch kaum Vegas-Atmosphäre auf, weil die Schauplätze so beliebig sind, dass sie fast überall sein könnten. Da hat es der Sparfuchs Frears zu Ungunsten seines Films übertrieben, indem er seinen Dreh einfach im wesentlich kostengünstigeren New Orleans abgehalten hat. Anstatt größere Teile vor Ort in Las Vegas zu drehen, begnügte er sich mit einer Woche Außenaufnahmen in den neonleuchtenden Straßen des Spieler-Mekkas.
Fazit: Stephen Frears zieht in seiner wohligen Komödie „Lady Vegas" alle Register des märchenhaften Kinos und verfolgt nach realem Vorbild den kometenhaften Aufstieg der „Erin Brockovich der Sportwetten". Trotz einiger dramaturgischer Holprigkeiten ist das - vor allem dank Rebecca Hall und Bruce Willis in den Hauptrollen - sehr charmante Unterhaltung.