Als „Human Centipede" 2010 auf dem Fantasy Filmfest in Deutschland Premiere feierte, war der Titel zumindest einem internetaffinen Publikum schon lange durch digitale Mundpropaganda bekannt. Ein Tausendfüßler, zusammengenäht aus Menschen – das war eine so morbide Vorstellung, dass der Film zum Selbstläufer in der Horror-Community wurde. 2011 wurde dem Hype-Film sogar eine Episode der US-Kultserie „South Park" gewidmet. Was steckt nun also tatsächlich hinter diesem Werk, das Gerüchten zufolge so beispiellos brutal sein soll: eine neue Definition von Filmgewalt oder nur ein weiterer Terror-Slasher unter vielen? Nein, „Human Centipede" ist weder das eine noch das andere. Als Regisseur, Autor und Produzent in Personalunion schafft der Niederländer Tom Six („Gay") mit seinem dritten Spielfilm einen außergewöhnlichen Horror-Beitrag, in dem er Genre-Allgemeinplätze und frische Ideen gleichermaßen hingebungsvoll zelebriert. Dennoch gilt: Wem schon bei der Vorstellung eines menschlichen Tausendfüßlers flau im Magen wird, der sollte „Human Centipede" weitläufig umschiffen.
Die beiden amerikanischen Freundinnen Lindsay (Ashley C. Williams) und Jenny (Ashlynn Yennie) unternehmen einen Trip durch Europa. Auf dem Weg zu einer Party haben die beiden mitten im deutschen Wald eine Autopanne. Ohne Handyempfang und Orientierung machen sie sich zu Fuß auf die Suche nach Hilfe und erreichen bald ein abgelegenes Anwesen. Dort lebt der seltsame Einsiedler Dr. Heiter (Dieter Laser). Er verspricht den jungen Frauen Hilfe und täuscht ein Telefonat mit dem Pannennotdienst vor. Nachdem der seltsame Doktor die Mädchen mit in Wasser gelösten Medikamenten betäubt hat, wachen sie an Krankenhausbetten gefesselt neben einem ebenfalls benommenen Trucker (Rene de Wit) in Heiters Keller auf. Dort erklärt der seinen drei Versuchskaninchen dann, was ihnen an Höllenqualen bevorsteht...
„Human Centipede" ist durch und durch geprägt von der schrägen Darbietung des deutschen Hauptdarstellers Dieter Laser. Der Schauspieler, der bislang meist nur in Nebenrollen oder kleineren Produktionen zu sehen war, stemmt den Film mit seiner gruseligen Präsenz fast im Alleingang. Laser spielt den archetypischen verrückten Wissenschaftler mit einer solchen Lakonie, dass es einfach Spaß macht, ihm bei seinen abgedrehten Monologen zu lauschen. Dass dieser größenwahnsinnige Spezialist für die Trennung siamesischer Zwillinge kein letztes bisschen Mitleid mehr in der schwarzen Seele trägt, ist in Sekundenschnelle offensichtlich – viel mehr erfährt man dann auch nicht über Dr. Heiter. Schließlich hat Six keine Charakterstudie, sondern einen boshaften Schocker gezimmert.
Wenn Dr. Heiter nach gelungener Operation unter Tränen das Erwachen seiner Schöpfung feiert und in Ekstase sein eigenes Spiegelbild küsst, wird seine überdrehte Figur deutlich genug skizziert: ein dem Wahnsinn naher moderner Medikus, angesiedelt irgendwo zwischen Viktor Frankenstein, Josef Mengele und dem griechischen Göttersohn Narziss. Wohlbemerkt: Was er dann anrichtet, wird überraschend unblutig bebildert. Einzig einige OP-Sequenzen erreichen einen grenzwertigen Ekelfaktor. Mit welch stoischer Gelassenheit Heiter dann aber seinen kranken Plan erklärt und später sein Geschöpf mit dem durchgängigen Verdauungstrakt dressiert, ist hier eben noch viel unerträglicher mitanzusehen als literweise durch die Gegend spritzendes Kunstblut.
In Sachen Gewaltdarstellung hat „Human Centipede" wenig mit entfernten Terrorfilm-Verwandten wie „Wrong Turn" oder „Hostel" zu tun – hier erledigt schlichtweg das Kopfkino den Rest. Etwa in einer Szene, in der der Vordermann des zusammengenähten Dreiergespanns sein Geschäft verrichten muss und in der alleine das Schlucken und Würgen seiner armen Mit-Opfer für blankes Grauen sorgt - hier sind beim Publikum starke Nerven und Mägen sowie viel Sinn für schwarzen Humor gefordert. „Human Centipede" ist eine unverhohlene Provokation, immerhin aber eine mit Stil und Witz. Anders als im Sequel „The Human Centipede 2", bei dem Six dann so richtig auf- und abdrehte – und eben die nihilistische Ekelorgie veranstaltete, die beim ersten Film noch der Fantasie des Publikums überlassen wurde.
Fazit: Tom Six' Low-Budget-Psychohorror „Human Centipede" lockt mit einer boshaften Prämisse und einem sehr gut aufgelegten Hauptdarsteller – zumindest ein abgebrühtes Genre-Publikum darf hier bedenkenlos zugreifen, ist „Human Centipede" doch weit besser als sein Ruf und als seine - bloß noch zynische - Fortsetzung.