Margarethe von Trotta (Vision) nannte ihr an das Leben von Gudrun Ensslin angelehntes Drama um zwei gegensätzliche Schwestern einst mit Blick auf die Nachkriegsjahre „Die bleierne Zeit“. Inzwischen wird diese Bezeichnung auch für die Hochphase des RAF-Terrorismus gerne gebraucht, jenen „Deutschen Herbst“, der wie eine Zentnerlast noch in unsere Gegenwart hineinwirkt. Bis heute sind viele Zusammenhänge ungeklärt, der Umgang mit den Tätern ist umstritten und ein Dauerthema in den Medien. Ging es in Bernd Eichingers und Uli Edels stargespicktem und pointiert dramatisiertem Der Baader Meinhof Komplex noch ganz ungeniert ums große Ganze, so wählt die Autorin und Regisseurin Susanne Schneider in ihrem Familiendrama „Es kommt der Tag“ einen entgegengesetzten Weg. Hier wird das Terrorismus-Thema auf die private Ebene zurückgeführt, in einem Mutter-Tochter-Konflikt wird der Graben zwischen den Generationen konkretisiert. Der Aufeinanderprall der gegensätzlichen Positionen wird mit Emphase, aber etwas schematisch dargebracht. Die wirklich spannende Konfrontation ist die zwischen den Spielweisen der beiden Hauptdarstellerinnen Katharina Schüttler und Iris Berben.
Winzersgattin Judith Muller (Iris Berben) arbeitet nicht nur auf dem elsäsischen Familiengut, sondern engagiert sich auch in einer Bürgerinitiave gegen den Anbau von Gen-Mais. Als ihr Einsatz für diese Sache ihr Foto auf die Titelseite der Zeitung bringt, ist sie allerdings alles andere als begeistert. Denn Judith hat eine Vergangenheit, die sie mit allen Mitteln geheim hält – auch vor ihrem Mann Jean Marc (Jacques Frantz) und den beiden Kindern Lucas (Sebastian Urzendowsky, Pingpong, Die Fälscher, Berlin '36) und Francine (Sophie-Charlotte Kaissling-Dopff): Ende der Siebziger hat sich Judith für den bewaffneten Kampf und den Gang in den Untergrund entschieden. Ihre kleine Tochter Alice hat sie zur Adoption freigegeben. Ebenjene verdrängte und verschwiegene, mittlerweile erwachsene Alice (Katharina Schüttler) taucht eines Tages bei den Mullers auf. Sie weiß längst um die wahre Identität der Hausherrin und sucht die Konfrontation mit ihrer als Terroristin und Mörderin gesuchten Mutter...
„Es kommt der Tag“ ist ein Film der Extreme. Hier geht es nicht um die analytische Durchleuchtung des menschlichen Verhaltens in Ausnahmesituationen, sondern eher um das Ausagieren der seelischen und emotionalen Verheerungen, die damit einhergehen. Alice ist wütend und will, dass die Mutter sich rechtfertigt – vor der Justiz und vor der Tochter, die sie im Stich gelassen hat. Sie handelt wie besessen vom blinden Fleck in der Vergangenheit. Die angestauten Aggressionen müssen irgendwie raus, sie schreit, schlägt um sich und wirft mit Weinflaschen – in Katharina Schüttlers (3 Grad kälter, Die Eisbombe) ungehemmter und furchtloser Darstellung wird Alice zur Rachegöttin, die mit ihrer Wut nur notdürftig die Verzweiflung kaschieren kann. Das Unverständnis der stets kontrollierten Judith könnte kaum größer sein, ebenso wie die Herangehensweise von Iris Berben (Buddenbrooks) an ihre Rolle kaum gegensätzlicher zum Auftreten ihrer jüngeren Kollegin denkbar ist.
Die existentielle Entscheidung, das eigene Leben aufzugeben und sich mit allen Mitteln für im eigenen Verständnis höhere Ideale einzusetzen, hat Judith, die früher Jutta hieß, zu einem anderen Menschen gemacht. Einen Teil von sich hat sie buchstäblich vergraben wie die Filmrolle, die ihr einziges Erinnerungsstück an ihr vergangenes Leben darstellt. Iris Berben scheint stets auf dem Sprung, hochkonzentriert und mit zusammengepressten Lippen kämpft sie um die Kontrolle. Die Lüge ist zur zweiten Haut geworden, denn ihr neues Leben birgt für sie eine neue Wahrheit und so sträubt sie sich mit aller Kraft gegen Alices Angriff. Dabei wirkt sie unterkühlt, zuweilen fast unbeteiligt, die neue Identität ist letztlich doch nur eine Rolle.
So faszinierend der Kontrast zwischen der extrovertierten Alice und der kaum fassbaren Judith auch ist, Antrieb und Motive der Älteren bleiben bei der Konfrontation doch sehr im Allgemeinen. Die viel beschworene Emotion kommt erstaunlich kurz – für eine bemerkenswerte Ausnahme sorgt Jacques Frantz (Counter Investigation), der als Jean Marc glaubhaft und anrührend echte Liebe zum Ausdruck bringt. Susanne Schneider verlässt sich leider zu wenig auf die Kraft ihrer kleinen Geschichte, versucht sie gleich am Anfang mit allegorischen Flussaufnahmen ins Bedeutsame zu überhöhen und die bemühten Dialoge geben „Es kommt der Tag“ die Anmutung einer Versuchsanordnung. Dass der Film dennoch stets fesselt, ist dem Schauspiel-Duell der beiden Protagonistinnen zu verdanken.