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    Die Beschissenheit der Dinge
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Die Beschissenheit der Dinge
    Von Sascha Westphal

    „Die Beschissenheit der Dinge", Felix van Groeningens Tragikomödie um eine kaputte Männer-Sippe in der belgischen Provinz, kommt genau zur rechten Zeit in unsere Kinos. Der von FDP-Chef und Vizekanzler Guido Westerwelle losgetretene Medienrummel um die angebliche „spätrömische Dekadenz" der Langzeitarbeitlosen und des deutschen Sozialsystems füllt zwar nicht mehr die Titelseiten der Tageszeitungen und Boulevardblätter. Aber er klingt noch immer nach. Auf den ersten Blick scheint van Groeningens Verfilmung von Dimitri Verhulsts gleichnamigem autobiografischen Roman all denen noch mehr Munition zu liefern, die sowieso schon gegen die Faulheit und Verkommenheit der – wie es heute so zynisch heißt – ‚bildungsfernen Schichten' polemisieren. Doch dieser Eindruck täuscht. Der dritte Film des 1977 in Gent geborenen flämischen Regisseurs ist vielmehr ein Gegenentwurf zu all den Reality-TV- und Doku-Fiktion-Formaten, die das trostlose Leben der von der bürgerlichen Gesellschaft Aussortierten noch einmal medial ausbeuten und schamlos die Sensationsgier derer befriedigen, denen es vermeintlich noch etwas besser geht.

    Der erfolglose Schriftsteller Gunther (Valentijn Dhaenens, „Mr. Nobody") kommt einfach nicht von seiner Vergangenheit los. Die Geschichte der Strobbes, also die seines kaputten Vaters Marcel (Koen de Graeve, „Loft – Tödliche Affären") und dessen drei Brüdern, lastet gleich einem Fluch auf ihm. Und nun hat ihn diese verhasste Zeit in einem Haus ohne Mutter und ohne richtigen Vater, denn Marcel war im besten Fall eher ein großer Bruder, im schlimmsten Fall ein Fremder, der ihn gar nicht haben wollte, wieder eingeholt. Das Schlimmste, was Gunther in seinen Augen geschehen konnte, ist geschehen: Seine Freundin ist schwanger und will es auch bleiben. Jetzt kommen die Erinnerungen aus den Achtzigerjahren mit aller Macht zurück; und erstmals scheinen die Worte regelrecht aus ihm herauszufließen. Damals war Gunther (nun: Kenneth Vanbaeden) gerade dreizehn Jahre alt und lebte zusammen mit deren vier Söhnen bei seiner Großmutter. Die Zustände im Haus der völlig überforderten alten Frau waren letztlich unzumutbar. Auf Drängen des Jugendamts kam Gunther schließlich in ein Internat. Währenddessen versuchte Marcel, sein Leben durch eine Entziehungskur doch noch in den Griff zu bekommen.

    Wie überall in der Provinz waren die Achtzigerjahre in Gunthers Heimatstädtchen ein wahrer Alptraum aus wüsten Vokuhila-Frisuren, scheußlichen Schnurrbärten, verwaschenen Jeansjacken und sonstigen Geschmacksverirrungen. Alles in „Die Beschissenheit der Dinge" ist geradezu schreiend hässlich und damit umso wahrhaftiger. Felix van Groeningens Blick auf das Jahrzehnt, das er selbst nur als Kind erlebt hat, erweist sich als erschreckend authentisch. Er trifft den Look und die Stimmung dieser Zeit so perfekt, dass es fast schon unheimlich ist. Aber bei aller Schonungslosigkeit, mit der er die Abgründe und die Abscheulichkeiten jener Jahre vor seinem Publikum ausbreitet, ein liebevoller Grundton schwingt in jeder Einstellung mit. Felix van Groeningen macht weder der Zeit noch seinen Figuren den Prozess. Er klagt sie nicht an und gibt sie auch nicht der Lächerlichkeit preis. Das Hässliche, das Schmutzige und das Gemeine, von dem er erzählt, sind Facetten des menschlichen Wesens. Sie können einen traurig machen (und sollten es auch), aber das ist noch lange kein Grund für die Herablassung oder gar Verachtung, die so typisch sind für all die Fernsehsendungen, die Menschen wie die Strobbes gleichsam ausstellen, als seien sie Tiere im Zoo.

    Alkohol und Körperausscheidungen fließen in „Die Beschissenheit der Dinge" regelrecht in Strömen. Insofern hält der Film, was sein Titel zu versprechen (oder eben auch anzudrohen) scheint. Natürlich tragen Marcel und seine Brüder ein gerüttelt Maß der Schuld an der trostlosen Situation, in der sie sich befinden. Aber das Bier und die Affären, die ihr Leben in einen immer weiter anwachsenden Haufen Dreck verwandeln, aus dem es kein Entkommen mehr gibt, sind Symptom und Therapie zugleich. Gemeinsam zerstören sie beinahe Gunthers Leben. Aber er liebt sie trotz allem; und diese Liebe hat sich Felix van Groeningen zu eigen gemacht. Die Strobbes sind ewige Verlierer, die sich in die kaputten Rituale einer beschädigten Männlichkeit flüchten. Das macht sie letzten Endes sogar zu tragischen Alltagsfiguren. Selbst die immer wieder beschworene Familienehre ist nur eine Illusion, die der Wirklichkeit nicht standhalten kann. Als ihre Schwester für einige Tage zu den vier Brüdern kommt, können sie sich nicht aufraffen, ihr wirklich zu helfen.

    Gerade in dem Moment, in dem die vier Geschwister wirklich zusammenhalten müssten, zerbrechen fast alle Bindungen. Aber wie sollte es in einer Familie, die Roy Orbison, den traurigsten aller Rock-Stars, zu ihrem Idol erklärt hat, auch anders sein. Wenn die Strobbes sich vor dem Fernseher versammeln, um ein Konzert ihres Helden zu sehen, nur dann sind sie wirklich eine Familie. Die von Sentimentalität erfüllte Sehnsucht und der von unzähligen Rückschlägen genährte Schmerz, die in so vielen Songs von Roy Orbison mitschwingen, kennen die Strobbes besser als alles andere. Sie sind ihr Leben. Von ihnen erzählt Felix van Groeningens Film mit einem Ernst und einer Inbrunst, wie sie sonst meist nur Popsongs kennen.

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