Mein Konto
    Günesi Gördüm - Ich sah die Sonne
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Günesi Gördüm - Ich sah die Sonne
    Von Christoph Petersen

    In Mahsun Kirmizigüls Flüchtlingsdrama „Günesi Gördüm – Ich sah die Sonne“ gibt es eine der bemerkenswertesten Szenen des türkischen Kinos der vergangenen zehn Jahre. In der Nacht zuvor war es zu Kämpfen zwischen der Armee und Partisanen gekommen, beide Parteien erlitten Verluste. Es wird eine türkische Familie gezeigt, die gerade erfährt, dass ihr Sohn bei diesem Scharmützel gefallen ist. Viele türkische Filmemacher, gerade die nationalistisch eingestellten, würden es dabei belassen. Doch Kirmizigül zeigt Mut und spart auch das kurdische Leid nicht aus – auch auf dieser Seite des blutigen Konflikts weinen Eltern um ihre Kinder. Im Gegensatz zu den meisten türkischen Filmen der jüngeren Vergangenheit, die sich auch mit Politik beschäftigen (etwa Tal der Wölfe – Irak oder Die Osmanische Republik), ist „Günesi Gördüm“ nicht extrem nationalbewusst – hier ist der Bürgerkrieg im Südosten des Landes keinesfalls ein gerechter oder zumindest ein notwendiger, sondern ein sinnloser. Dass es der Film im Abspann sogar wagt, den offiziellen Flüchtlings- und Opferzahlen die – ungleich höheren – von nicht-staatlichen Organisationen gegenüberzustellen, ist besonders deshalb überraschend, weil es sich bei „Günesi Gördüm“ keineswegs um einen kleinen subversiven Untergrundstreifen, sondern um einen Film für ein großes Publikum handelt.

    Der Bürgerkrieg in der Türkei tobt mittlerweile schon seit 25 Jahren. Mehr als 2,5 Millionen Kurden wurden in dieser Zeit aus ihrer Heimat vertrieben. Unter ihnen ist auch die Familie Altun, die nun unter Zwang aus ihrem Dorf in den Bergen nach Istanbul auswandern muss. Ramo (Regisseur Mahsun Kirmizigül) und seine Frau Havar (Demet Evgar) haben fünf Töchter und seit Kurzem – nach langem Hoffen und Bangen – auch einen Sohn. In Istanbul können die Kinder endlich eine Schule besuchen, doch eine Großstadt bringt auch viele Gefahren mit sich, wie die Familie bald schmerzlich feststellen muss. Kadri (Cemal Toktas) ist im falschen Körper geboren. Doch in seiner alten Heimat konnte er seinem Wunsch, als Frau zu leben, nicht nachgeben. In der großen Stadt trifft er nun auf Gleichgesinnte, die ihn dazu ermutigen, sein wahres Ich herauszulassen. Allerdings kommt Bruder Mamo (Murat Ünalmis) gar nicht damit klar, dass Kadri sich Weiberklamotten anzieht und mit Männern schläft. Immer wieder schlägt Mamo seinen kleinen Bruder zusammen, bis die Situation vollends außer Kontrolle gerät…

    Die Ankunft der Familie Altun in Istanbul wirkt im ersten Augenblick wie ein Werbefilm, der die Kurden dazu bewegen soll, aus ihren Bergen in die türkischen Städte zu ziehen. Hier gibt es teure Autos, gute Schulen, Arbeit für jeden, das Meer und natürlich Waschmaschinen. Doch Letztere wird später noch großes Unheil über die Familie bringen und auch sonst ist nicht alles Gold, was glänzt. So erweist sich „Günesi Gördüm“ schnell als eindringliches Plädoyer für mehr Toleranz: Jeder soll leben, wo und wie er will. Im Finale stellt Regisseur Kirmizigül zwei Situationen nebeneinander. In der einen ist der Hass und die Unfähigkeit, andere so zu akzeptieren, wie sie sind, einfach zu stark. Tod und Schmerz sind die Folge. In der anderen wird der Hass überwunden und Hoffnung macht sich breit. Ein so klarer und ausdrücklicher Schrei nach Frieden findet sich im türkischen Kino selten.

    Dazu passt auch, dass Kirmizigül das Militär nicht allzu hart anpackt. Würde der Film die Armee offen anklagen, wären alle Nationalisten vor den Kopf gestoßen und hätten für die Aufforderung zu mehr Toleranz erst recht kein Verständnis mehr. So halten die Helikopter in der Eröffnungsszene, nachdem sie ihre Raketen auf ein Versteck des Widerstandes abgeschossen haben, ein, bevor sie unschuldige Bauern töten. Außerdem werden die kurdischen Widerstandskämpfer brav als Terroristen bezeichnet. Und der Kommandant, der den Dorfbewohnern ihre baldige Evakuierung mitteilt, ist arg verständnisvoll – für alle Probleme hat er ein offenes Ohr, ob nun die nächste Schule 40 Kilometer entfernt ist oder die Bauern außer Ackerbau und Viehzucht nichts gelernt haben. Dieser offensichtlich geschönte Charakter passt jedoch perfekt ins Konzept: „Günesi Gördüm“ will eben Anlass für einen Dialog und nicht Grundlage für die Aufarbeitung von Schuld sein. Das Verhältnis zum türkischen Staat bleibt dennoch zwiespältig: Am Ende bedankt sich Ramo bei Mutter Staat für Krankenhäuser und Kinderheime, zugleich beschwert er sich aber bei Vater Staat dafür, dass dieser ihn aus seiner geliebten Heimat vertrieben hat.

    Fazit: „Günesi Gördüm – Ich sah die Sonne“ ist ein gewaltiger Schritt in die richtige Richtung. Zwar hält sich der Film zumindest mit einer offenen Anklage des Militärs zurück, ansonsten zeigt sich das türkische Kino hier aber so ausgeglichen und uneindeutig wie in den vergangenen Jahren nur selten.

    Möchtest Du weitere Kritiken ansehen?
    Das könnte dich auch interessieren
    Back to Top