Von einem Film, in dessen ersten Momenten eine Mutter stirbt, erwartet man normalerweise, dass er sich mit der Aufarbeitung dieses Todes beschäftigt, dass etwa den Kindern bei der Bewältigung des Verlustes zugesehen wird. Aber Regisseurin Fabienne Berthaud, die mit „Barfuß auf Nacktschnecken" ihren eigenen, gleichnamigen Roman verfilmt, geht einen anderen Weg. Sie konzentriert sich in ihrem zweiten Kinofilm auf die unterschiedlichen Charaktere der beiden zurückbleibenden Schwestern, die so sehr mit sich selbst beschäftigt sind, dass die Trauer um die Mutter schnell in den Hintergrund gerät. So entsteht nur vordergründig und eher am Rande zwar auch ein kleines Familiendrama, hauptsächlich wird der Film aber zu einem fast schon essayistischen Eintauchen in die Freuden eines Lebens, das sich ganz auf den Augenblick konzentriert.
Lily (Ludivine Sagnier) hat bis zu deren Tod bei ihrer Mutter Françoise (Anny Romand) auf dem Land gelebt, sie ist geistig und moralisch auf dem Entwicklungsstand eines Grundschulkinds geblieben, das im Körper einer erwachsenen Frau lebt. Ihre Schwester Clara (Diane Kruger) muss nun die Verantwortung für Lily übernehmen – sehr rasch stellt sich aber heraus, dass diese weder allein im alten Haus der Mutter und unter Aufsicht der Nachbarin Mireille (Anne Benoit) wohnen bleiben kann, noch ein Leben in der Stadt ertragen würde. Clara lässt deshalb die Arbeit im Büro ihres Mannes Pierre (Denis Ménochet) ruhen und zieht zu Lily aufs Land – nach anfänglicher Euphorie stellt sie aber bald fest, dass es gar nicht so leicht ist, für die Schwester zu sorgen, zumal Pierres Eltern Odile und Paul (Brigitte Catillon, Jacques Spiesser) von der Entscheidung ihrer Schwiegertochter alles andere als begeistert sind...
Berthaud hat es nicht eilig mit ihrem Film, zunächst sieht man Lily durch hügelige Natur schlendern, einem scheuen Reh gleich – ein solches Tier steht ihr auf einmal gegenüber, und man ist sich zunächst gar nicht sicher, wer zuerst fliehen wird. Der Tod von Françoise ist ohne jede Dramatik inszeniert, und schon die eher generischen Szenen von ihrer Beerdigung nutzt die Regisseurin dafür, ihre zwei Protagonistinnen zu charakterisieren und einander gegenüberzustellen. Clara, in schwarz, ist ganz äußere Beherrschung, der man die Anspannung ansieht und die Anstrengung, ihre Trauer nicht zu sehr sichtbar werden zu lassen, während Lily in einem kurzen weißen Kleid gekommen ist, am Grab unter Tränen ein ungelenkes Gedicht vorliest – um anschließend dem Leichenschmaus umso herzhafter zuzusprechen.
Aber Lily wird eben auch die sein, die später immer ans Grab ihrer Mutter geht und es bunt schmückt: Sie ist, darauf will Berthaud hinaus, mit ihren Emotionen wie Bedürfnissen zu jeder Zeit in direktem Kontakt, sie mag wechselhaft sein, ist aber stets ehrlich. Dass Sagnier diese Rolle spielt, ist in gewisser Weise konsequent, hat die junge Schauspielerin in Filmen wie „Swimming Pool" doch schon öfter Figuren mit Leben erfüllt, die eher auf die Lusterfüllung im Moment ausgerichtet schienen als auf Disziplin und Verantwortung. Krugers Claire verkörpert dagegen genau diese Tugenden zu Beginn des Films bis zur Selbstverleugnung; und es spricht für das Talent der Hauptdarstellerinnen, dass ihnen die beiden Schwestern nicht zu stereotypen Gegensätzen gerinnen.
Natürlich ist es nicht Berthauds Ziel, die Unterschiede zu zementieren und als unversöhnlich stehenzulassen, vielmehr will sie die Entwicklung Claires zu einem neuen Menschen zeigen – aber gerade zu Beginn des Films geraten die Gegensätze (weißes Kleid, schwarzes Kleid) doch etwas holzschnittartig. Dafür werden die Kontraste im Verlauf der Handlung - wenn sich Claire und Lily nach verschiedenen Konflikten einander annähern - geschickt graduell aufgebrochen: Die Schwestern beginnen, sich ähnlicher zu kleiden und zu geben, und vor allem Kruger macht die inneren Kämpfe Claires mit großer Subtilität und Zurückhaltung sichtbar.
Während Lilys kindliche Unschuld sich vor allem in ihren kreativen Projekten zwischen „Land Art", Kunsthandwerk und Cindy Sherman zeigt – sie umhäkelt Bäume, bastelt kleine Zäune aus Puppenteilen und näht Pantoffeln aus dem Fell tot aufgefundener Tiere –, befreit Claire sich langsam aus den gesellschaftlichen Zwängen, in die sie sich auch mit ihrer Beziehung begeben hat. Das bedeutet auch ein Wiederentdecken von Sinnlichkeit, und hier liegen die großen Stärken von „Barfuß mit Nacktschnecken": Berthaud, die in ihrem Film auch die Kamera geführt hat, geht ganz nah an ihre Protagonistinnen heran, sie sieht bei einem Bad im Bach oder bei einem sommerlichen Picknick im hohen Gras zu – der Handlungsort in Südfrankreich lässt solche entspannten Bilder natürlich leicht zu. Diese geruhsamen Momente und damit das Aufgehen im Erleben des Augenblicks werden geradezu zelebriert.
Zu leiden haben in diesem ganz auf die beiden Protagonistinnen zugeschnittenen Film freilich die Nebenfiguren. Vor allem Denis Ménochet als Claires Mann Pierre bekommt wenig zu tun und zu sagen – wenn die Schwestern schaukeln, sitzt er stumm an einem Gartentisch davor, bei den gemeinsamen Mahlzeiten sagt er wenig oder anscheinend das Falsche. Und obwohl er Claires Entscheidungen augenscheinlich mitträgt und auch gegen seine Eltern verteidigt, wird er am Schluss verhältnismäßig unfreundlich aus dem Film hinauskomplimentiert.