"Früher war hier mal was los in Vegas; doch mittlerweile ist so eine Art Disneyland daraus geworden!" Sam "Ace" Rothstein (Robert de Niro), Manager des (dank ihm) umsatzstärksten Spielkasinos der Stadt, zieht am Schluss von Martin Scorseses fast dreistündigem Mafia-Epos "Casino" ernüchtert Bilanz. Er kommentiert aus dem Off, so wie der gesamte Film immer wieder von Off-Monologen und Erläuterungen der Hauptfiguren gestützt wird, um eine subjektive Sicht der Dinge zu suggerieren. Wenn Ace vom "alten" Vegas spricht, dann meint er das Las Vegas der 70er-Jahre, bevor die anonymen Großkonzerne sich anschickten, durch die Ablösung des Machtmonopols von Mafiosi und Handlangern das Spieler-Mekka zu legalisieren und zum touristentauglichen Ort umzufunktionieren, der fortan dem kapitalistischen Weltmarkt unterstellt war.
Ace ist die Stimme des alten Vegas. Als gerissener, disziplinierter Buchmacher und Profispieler kennt er sämtliche Tricks. Seine Aufgabe ist es zu gewährleisten, dass das von der Mafia kontrollierte und gesteuerte Tangiers-Casino den größtmöglichen Gewinn für seine Bosse abwirft. Unter der Hand laufen schmutzige Geschäfte; FBI und Politiker werden mit Schmiergeld gefügig gemacht und Ace`s Bande wirtschaftet sich die Kohle, die die Gäste des Casinos entweder beim Pokern oder an den Automaten verzocken, in die eigenen Taschen. Zur Seite steht Rothstein sein Jugendfreund Nicky Santoro (Joe Pesci), ein psychopathischer Gauner und Halsabschneider, der bald auf
eigene Faust versucht, Gewinn zu machen, und Ace`s Gang damit in die Bredouille bringt. Als Ace dem Callgirl Ginger McKenna (Sharon Stone), einer lebenshungrigen Hobbyspielerin, über den Weg läuft und sich in sie verliebt, wender sich das Blatt vom ewigen Günstling und sein minutiös strukturiertes Leben geht langsam den Bach runter...
Schon oft erhielt Scorseses "Casino" den Stempel des inoffiziellen Nachzüglers zum fünf Jahre zuvor entstandenen "GoodFellas". In beiden Filmen wird der Zuschauer zum Zaungast eines in sich geschlossenen Systems, das sich in einem Sog krimineller Energie zwangsläufig selbst verschlingt. Diesmal enthüllt Scorsese die Mechanismen einer Mafia-Organisation in der Glitzermetropole Las Vegas, die wie im Maschinenbetrieb Rädchen für Rädchen miteinander verzahnt ist, so dass jedem seine ihm zugeteilte Aufgabe zur Pflicht wird, um das halbseidene Gebilde am Laufen halten zu können. In einer atemberaubenden Exposition, die gut ein Drittel der Laufzeit in Anspruch nimmt, tut sich mit einer wahren Flut an Informationen ein Komplex aus gegeseitiger Abhängigkeit vor einem auf, bei dem das Geld der alles regulierende Faktor ist.
Selbst die Eheschließung Rothsteins mit Ginger dient lediglich dem Funktionieren des großen Fixpunktes Spielhölle, was Ace aber zu spät durchschaut, weil er in seinem blinden (Erfolgs-)Wahn glaubt, alles im Griff zu haben. Die teuren Villen, Autos und Maßanzüge sind Reflektoren einer besonders ausgeprägten Form von Ehrgeiz und Macht - einer Macht, die in unkontrolliertem Zustand zur Ohnmacht wird. Das Individuum verkommt hier zum wertlosen Gegenstand des Systems. Nicky, der sich in das "Privatleben" von Ginger und Ace einmischt, schaufelt sich damit buchstäblich sein eigenes Grab, nachdem ehemals dicke Freunde zu erbitterten Todfeinden wurden. Die Scheinheiligkeit des mafiösen Ehrenkodex ignoriert die Tatsache, dass jede Handlung, jede Entscheidung, die außerhalb der Casinos getroffen wird, ohnehin nur Mittel zum Zweck des Geschäfts ist.
"Never change a winning team", muss sich Martin Scorsese bei der Auswahl seiner Mitwirkenden gedacht haben. Neben "GoodFellas"-Co-Autor Nicholas Pileggi, der bei "Casino" wieder entscheidend an der Endfassung des Drehbuchs beteiligt war, baute der Regisseur erneut auf das Gespann De Niro/Pesci, deren Rollenverteilung ebenfalls deutlich an "GoodFellas" gemahnt, was aber dank der glänzenden stilistischen Verlagerung des Ganzen kein Störfaktor ist. Dabei ist De Niros Charakter Sam "Ace" Rothstein der realen Figur des Casinotycoons Frank "Lefty" Rosenthal nachempfunden, der in den 70ern tatsächlich ein riesiges Glücksspiel-Imperium in Las Vegas aufbaute. Von einer ganz anderen Seite, als man es von ihr bis dahin gewohnt war, zeigte sich hier einmal Sharon Stone, die als berechnend-kühle Glücksritterin zurecht den Golden Globe bekam.
Optisch ist "Casino" eine Wucht. Mit seinen hypnotisierend-flirrenden Schnittstakkattos ist Scorsese darauf aus, jeden Winkel dieser schillernden Glitzerwelt zu erforschen, ohne sich dabei allzu sehr in Spielereien zu verlieren. Von der Nachtaufnahme der Wüstenstadt zu Beginn - einer Stadt, die niemals zu schlafen scheint - zoomt er mitten hinein ins Zentrum der Leuchtreklamen und der Stätten des falschen Glamours. Nebenher fährt er eine ganze Jukebox voller zeitgenössischer Hits auf, deren Höhepunkt sicherlich Moody Blues` "Nights in white satin" stellt.
Scorseses Analyse des Herrschaftssystems Vegas ist kühl, sachlich und exakt; von Ehrfurcht oder Bewunderung keine Spur. Der Italo-Amerikaner lässt seine Fallstudie dreier Menschen, die das Glück erzwingen wollen - mit allen legalen oder weniger legalen Mitteln - einzig und allein auf logischer Kettenreaktion beruhen. Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied. Doch das Spiel mit dem Glück ist auch ein Spiel mit dem Feuer. Mit dem flammenden Autobombenanschlag auf Rothstein als theologisches Sinnbild der Warnung vor und dem Sturz gen Hölle zugleich, den Scorsese als Pro- und Epilog verwendet, schließt sich ein Kreis. Die Würfel sind gefallen - und Las Vegas wird niemals wieder dasselbe sein.