„Krankheit als Weg“, so heißt eines der feinsinnig-verspielten Lieder der Hamburger Indie-Popband Blumfeld. Dieser hintergründige Titel könnte ebensogut als Motto über der selbstreflexiven Aktionskunst Christoph Schlingensiefs stehen. Schon bei seinem TV-Projekt „Freakstars 3000“ arbeitete der eigenwillige Künstler mit körperlich und geistig erkrankten Menschen. In der 2007 durchgeführten Aktion „Die Piloten – eine Talkshow in sechs Folgen, die niemals ausgestrahlt wird“ war Krankheit wieder eine prägende Metapher und ein allgegenwärtiges Motiv. Die Arbeit an diesen fingierten Fernsehgesprächsrunden begleitete die Regisseurin Cordula Kablitz-Post vor und hinter den Kulissen. In ihrer Dokumentation „Christoph Schlingensief – Die Piloten“ fängt sie nicht nur das kreative Durcheinander, das die Aktion prägte, überaus unterhaltsam und lebendig ein, sondern sie legt auch die Arbeitsweise und die Gedankengänge Schlingensiefs offen und verleiht dem vermeintlichen Chaos mit klarer Struktur Ordnung. So entsteht weit mehr als nur ein Einblick in eine Künstlerwerkstatt – „Christoph Schlingensief – Die Piloten“ wird nach und nach zum bewegenden Porträt eines Ausnahmekünstlers, der sich mit Herz und Seele in seine Arbeit einbringt.
Zehn Jahre nach der 1997 auf Vox ausgestrahlten TV-Gesprächsshow „Talk 2000“ gab Christoph Schlingensief vor, Piloten, also Testsendungen, für eine weitere Talkshow produzieren zu wollen. Er selbst moderierte die vermeintlichen Fernsehaufzeichnungen an drei Abenden in der Berliner Akademie der Künste. Die Talkrunden setzten sich aus Unwissenden und Eingeweihten zusammen, hinzu kamen Schauspieler, die nur spärliche Anweisungen zu ihren Rollen bekamen und einige von Schlingensiefs alten Mitstreitern aus „Freakstar 3000“-Zeiten. Ein Thema für die Gespräche war nicht vorgegeben, es wurde über fast alles geredet, was Schlingensief und seinen Gästen in den Sinn kam. Erst beim anschließenden Schnitt werde dem Ganzen ein Sinn untergeschoben, so behauptet es der Moderator immer wieder.
„Christoph Schlingensief – Die Piloten“ ist über weite Strecken ein Dokument dieser für sich genommen bereits äußerst aufschlussreichen Shows. Aber Regisseurin Cordula Kablitz-Post setzt dem Projekt ihres langjährigen Freundes einen eigenen Gestaltungswillen entgegen. Während Schlingensiefs Hinweise auf die manipulative Macht der Montage Teil seiner Methode der Subversion und Entlarvung sind, verleiht Kablitz-Post ihrem Film gerade durch die geschickte Anordnung der Elemente besondere Prägnanz. So unterbricht sie die Chronologie der Ereignisse und die Aufzeichnung der Aktion selbst für kleine Momentaufnahmen, Impressionen und Interviewszenen. Hier eröffnen sich verschiedene Wahrnehmungsebenen und Interpretationsansätze, wenn etwa die konsequent ignorierten Mitglieder der Band „The Pleasures“ zu der Überzeugung gelangen, dass Schlingensief ihnen eine tiefsinnige Botschaft mitteilen möchte, während dieser selbst über die Konzeptlosigkeit der Unternehmung feixt.
Natürlich ist Schlingensiefs Vorgehen alles andere als konzeptlos. Kablitz-Post zeigt uns dies, indem sie seine Kommentare zur Arbeitsweise wie ein Regulativ zwischen die turbulenten Szenen aus „Die Piloten – eine Talkshow“ schaltet. So wird Schlingensiefs groß angelegtes Verfahren der totalen Subversion verdeutlicht. Die Mechanismen im Umgang mit den Medien sollen offengelegt und so kritisierbar werden. Schlingensief ist gewillt, bei dieser Demonstration bis zum Äußersten zu gehen. Er schont sich selbst nicht, aber auch seine Gäste, darunter gute Freunde wie der Regisseur Oskar Roehler (Lulu und Jimi, Elementarteilchen, Agnes und seine Brüder), der Schauspieler Rolf Zacher und der Aktionskünstler Hermann Nitsch, werden mitunter schamlos der Lächerlichkeit preisgegeben.
Regissurin Kablitz-Post schlägt einen Bogen vom Komischen zum Tragischen, indem sie zunächst Ausschnitte vorführt, die in ihrer Komik manchmal bis an die Schmerzgrenze gehen, und später sehr emotional aufgeladene Szenen präsentiert. Dadurch setzt sie einen bemerkenswerten Akzent, in genauer Umkehrung der die Kunst der Moderne so oft bestimmenden Richtung führt der Weg hier vom Lächerlichen zum Erhabenen. In der ersten Filmhälfte kann noch der Eindruck entstehen, dass Schlingensief nur ein heiteres Spiel kontrolliert und inszeniert. Gegen Ende wird aber immer deutlicher, wie stark sich der Künstler auch persönlich und privat einbringt. Während der Produktion der Piloten erkrankte Schlingensiefs Vater so schwer, dass die Aktion unterbrochen wurde und der Künstler ans Krankenbett eilte. Als anschließend die ausgefallene Sendung nachgeholt wird, macht Schlingensief sogleich seine Verlustangst und die Gewissensbisse dem Vater gegenüber zum Thema der Talkrunde. Nach der Show bricht er unvermittelt in Tränen aus, da eine Geste eines seiner älteren Gäste ihn an den Vater erinnert hat, bei dem er eigentlich sein sollte. Die Fähigkeit zur schonungslosen Selbsthinterfragung hilft Schlingensief beim Versuch, die Wunden des kranken Systems der Massenmedien offenzulegen.
Kablitz-Post zeigt uns die vielen Facetten des Künstlers, der manchmal wie ein aufmüpfiger Pubertierender daherkommt, aber gleichzeitig unter Kontrollzwang leidet, im Zusammenhang mit seinem Wirken. Damit wird sie nicht nur der Künstlerpersönlichkeit Schlingensief in ihrer Vielschichtigkeit gerecht, sondern reflektiert auch deren Projekt und setzt es zugleich auf ihre eigene Weise fort.