Selten gab es für einen Superheldenfilm so viele Bewertungen (gute wie schlechte), die so wenig mit dem eigentlichen Film, sondern einer politischen Debatte (oder besser: Flamewar) dahinter zu tun hatten. Darum hier einmal mein Eindruck von gestern Abend:
Setting:
Ein gutes Drittel des Films spielt im Weltraum, auf Raumschiffen und anderen, bisher im MCU nicht besuchten Planeten. Einführung und Hintergrund bleiben knapp und etwas oberflächlich, wirken aber - soweit man das sagen kann - stimmig und optisch beeindruckend. Wohlgemerkt: Dieses Problem hatten schon die Guardian-Filme und ähnlich wie dort, stört das etwas dünn ausgearbeitete Setting durch treibenden Plot und funktionierende Charaktere kaum.
Wir erfahren mehr über die Skrull und die Kree, wobei einiges aus älteren MCU-Filmen vertieft, verwoben, ausgearbeitet und neu beleuchtet wird.
Der wesentlich längere Aufenthalt auf der Erde, der (das Marketing wird nicht müde, das zu betonen) in den 90er Jahren spielt, ist insgesamt gut eingefangen. Ja, Kassetten, Gameboy und Co. und auch die Musik machen das klar. Mein persönliches Problem hierbei ist der Hype/Kult um eine Zeit, die ich gefühlt vorgestern erlebt habe: Die Leute hatten kein Smartphone in der Hand und da, wo heute Blue-Ray-Cases stehen, standen damals halt Kassetten; die Hipster hießen Yuppies und Mann trug weniger Bärte... ansonsten sehe ich keinen wirklichen Unterschied und im Gegensatz zu Stranger Things finde ich es immer etwas schwierig, wenn mir allein konkrete Musik- oder Filmtitel sagen müssen, dass wir in einer GANZ ANDEREN Zeit sind. Unabhängig von meiner individuellen Empfindung macht der Film seine Arbeit aber gut. Selbst die Verfolgungsjagden im Auto oder Agenten im Luftwaffenstützpunkt haben definitiv ein "90er-Feeling" ind em Sinne, dass sie sofort an entsprechende Filme der Zeit erinnern.
Die Schauspieler:
Samuel L. Jackson spielt Samuel L. Jackson, nicht mehr und nicht weniger, das aber sehr gut. Coulsen ist, wie in den Filmen üblich, gleichzeitig sehr nebensächlich und virtuos. Brie Larsson... hat mir ziemlich gut gefallen. Ich glaube, ich hätte sie nicht für die Rolle gewählt, ich hätte ihr eine andere Frisur gegeben, hätte gerade diese Figur dann doch nochmal etwas anders geschrieben, aber am Ende des Tages, when all is said and done, muss ich sagen, dass sie das, was man ihr gegeben hat wirklich gut umsetzt. Die Kampfszenen (dazu später mehr) macht sie so gut, wie man es von Untrainierten erwarten kann, die Gefühle, Keckheit, Verwirrung, Trauer, Wut nimmt man ihr MEISTENS (auch dazu später mehr) ab und sie passt gut in das bisherige MCU. Keine Frage, für mich war Gadot eine bessere Wonder Woman als Larsson eine Danvers, aber von einer wirklichen Fehlbesetzung oder fehlender schauspielerischer Leistung kann einfach keine Rede sein. Thalos und die Kree sind durchweg glaubhaft und funktionieren mit einer kleinen Ausnahme, in der man Thalos Carakter deutlich zu hart bricht. Es gibt ein Vorher und ein Nachher und während der Wandel der Figur insgesamt sogar glaubhaft und nachvollziehbar ist, ist der Moment selbst - in meinem Empfinden - ein zu starker, unvorbereiteter und immersionszerstörender Bruch.
Action und Effekte:
Durch die Bank solide und gut, wenngleich stellenweise etwas schwächer in Szene gesetzt, als man es gewohnt ist. Es gibt im MCU sehr starke Actionszenen, die von ihrer großartigen Choreographie und dezent ausgewähltem Einsatz von Soundeffekten, Kamera und Score leben: Der erste Kampf von Rogers gegen Barnes, viele Szenen um Iron Man, viele Cap.-Solo-Fights, Black Widow und Hulk, Barnes und Rogers gegen Kommandosoldaten, Thanos gegen Stark, die meisten Spiderman-Szenen, Crossbones, usw. Dann gibt es jene schlechteren Szenen, die sich auf CGI, Explosionen, rumfliegende Leute und fehlende Konsequenz/Stehaufmännchen verlassen: Einige Szenen in Wakanda, einige Szenen aus den sonst guten Guardians-Filmen, Finale von Iron Man 2 und 3 oder Age of Ultron... Captain Marvel liegt voll in der Mitte und schlägt vereinzelt in die eine oder andere Richtung aus. Es hätte dem Film zudem SEHR gut getan, wenn man ihre Kräfte wenigstens in einem Nebensatz erklärt hätte, statt einfach nur auf "Photonenzeug" und "jetzt halt mehr davon, cool oder?" zu setzen. Die Erklärung und Schlüssigkeit von Superkräften ist etwas, womit ALLE Superheldengeschichten enorm gewinnen oder verlieren.
Humor und Drehbuch:
Die Kritik vorweg: Die Arbeit mit Flashbacks und Erinnerungen funktioniert zwar im großen und ganzen, wirkt aber etwas kontur- und strukturlos, inhaltsleer und chaotisch. 3-5 Gags und Oneliner zünden so garnicht oder sind schlichtweg vermasselte Aktionen der Dialogschreiber. Das gilt auch für 2-3 Pacing-Probleme, wo eine dramatische Szene zu schnell oder eine unbedeutende Szene zu langsam verläuft. Im Umkehrschluß bedeutet das aber auch, dass die 20 anderen Gags für Lacher und gute Unterhaltung sorgen und die Dramatik des Films im wesentlichen solide und gut wirkt. Wir haben uns - unterbrochen von einigen Kleinigkeiten und Augenrollen - insgesamt wirklich gut unterhalten gefühlt und mussten mehrmals laut lachen. Es reicht nicht ganz an die beiden GOTG-Filme, Thor 3 oder die superben Dialoge um Robert Downing Jr. und Avengers 1 heran, bleibt aber besser als so manche gewollten Gags in Thor 1 und 2 oder BP.
Sonstiges:
Kleine Logiklücken im Raumschiffdesign, strategischen Entscheidungen, Persönlichkeit von Dr. Lawson etc. 2-3 Deus-Ex-Machina-Momente (ja, ich schaue Dich an, "Goose"), gut gewählte, aber teils etwas schräg eingesetzte Musik und Sprüche, die insgesamt passend und neutral, im Kontext der Hater-Debatte um den Film aber unnötig unsubtil wirken, sowie vor allem und an vorderster Front die (noch?) Beliebigkeit der Superkräfte Carol Danvers sind kleinere Ärgerlichkeiten, über die man entweder wohlwollend hinwegsehen kann oder die hoffentlich später (bald!) aufgelöst und abgerundet werden.
Das Politische, Feminismus und Gehate:
2 von 5 Leuten aus unserer Kinogruppe ist ein vermeintlich hoher weiblicher Cast aufgefallen, mir nicht. Wir waren uns alle einig, dass der Film es schafft, feministische Konzepte (die guten, im Ursprungssinne, nicht die hysterische Vermittlung) glaubhaft und meistens subtil unterzubringen. Es gibt Drehbuch- und Dialogschreiber, die das können, gut und richtig machen und ein wichtiges, progressives Anliegen anständig voranbringen. Dazu zähle ich Wonderwoman, aber auch das Spiel mit Klischees und ihrer Dekonstruktion bei Black Widow (leider nie mehr so stark wie in Avengers 1), Jessica Jones oder Collen Wing in IF (einer der wenigen Lichtblicke).
Woran sich die meisten Leute stören, sind Schreiber, die weniger geschickt versuchen, dem Publikum ihre Werte (unabhängig der Richtigkeit des Anliegens) mit dem Vorschlaghammer einzutrichtern: Inkompetente lilahaarige Militärführerinnen, die Charmed-Neuauflage oder einige Szenen im Sabrina-Reboot sind mir da sehr negativ aufgefallen. Der ungelenke Vorschlaghammer tut der guten Sache höchstens einen Bärendienst und wirkt störend. In Captain Marvel gab es - entgegen aller Befürchtungen, Prophezeiungen und Schwarzmalereien - bleibt deutlich im erstgenannten Bereich! Allein zwei Szenen haben mich ein wenig gestört: Dass sie gegenüber Yon-Rogg zum Schluß noch einmal das offensichtliche aussprechen muss (die Szene wäre ohne den Satz viel stärker gewesen, so wirkt es inkonsequent) und die vollkommen belanglose und inhaltsleere Anspielung auf ein (bisexuelles?) Interesse an "Minn-Erva".
Mein Fazit:
Der Film ist gutes, solides Marvel-Mittelmaß. Ich war/bin ein großer Fan von Figur und Setting in Doctor Strange und verstehe den Impact, den Black Panther in America hat, aber Captain Marvel ist meiner Meinung nach und so objektiv, wie eine solche Einschätzung sein kann, auf keinen Fall der schlechteste Marvel-Film und schlägt zumindest in meinen Augen Thor 1 und 2, Captain America 1, Black Panther und wahrscheinlich auch den etwas generischen und oberflächlichen Doctor Strange. Was ich hervorheben muss: Der Film hätte WESENTLICH schlechter funktioniert, wenn ihm nicht vorher GotG 1+2 und Thor 3 zugearbeitet hätten, was Setting und Humor angeht.