Kaum eine Ankündigung schlug in Comic-Fankreisen so hohe Wellen wie diese: „Black Swan"-Mastermind Darren Aronofsky inszeniert „The Wolverine". Der Bezug zum zerfahrenen „X-Men Origins: Wolverine" sollte gekappt, das darbende Franchise unter der Federführung des Regie-Visionärs revitalisiert werden. Nach fünf Monaten Vorproduktion jedoch sprang Aronofsky wieder ab, vorgeblich, um kein ganzes Drehjahr von seiner Familie getrennt leben zu müssen. Glaubwürdig war diese Begründung zwar von Beginn an nicht. Dass Aronofsky sein gutes Verhältnis zu den Fox Studios, die bereits „Black Swan" und „The Wrestler" finanziert hatten, nicht mit einer öffentlichen Austragung künstlerischer Differenzen belasten wollte, versteht sich gleichwohl von selbst.
Weniger Anteilnahme als vielmehr Misstrauen erntete derweil Matthew Vaughn („Kick-Ass") mit einem anderen Projekt zur Ehrenrettung des „X-Men"-Franchises – und zwar aufgrund katastrophaler Arbeitsbedingungen. Als der britische Filmemacher nämlich Anfang Oktober 2010 im Auftrag von Fox mit den Dreharbeiten loslegte, blieben ihm bis zum unumstößlichen US-Starttermin am 3. Juni 2011 gerade einmal acht Monate, um einen Blockbuster aus dem Boden zu stampfen. Dass Vaughn dabei kein inkohärentes Desaster, sondern tatsächlich gutes Comic-Kino produziert hat, ist eine respektable Leistung. Zwar ist „X-Men: Erste Entscheidung" die furchtbar knappe Entwicklungszeit anzumerken; vor allem in puncto Drehbuchreife. Dafür begeistert der Film mit starken Themen und zwei grandiosen Hauptdarstellern: James McAvoy und Michael Fassbender.
Nazideutschland, Auschwitz: Der kleine Erik Lehnsherr muss mit ansehen, wie der Mutationsforscher Sebastian Shaw (Kevin Bacon) seine Mutter erschießt. Zur gleichen Zeit trifft der kindliche Telepath Charles Xavier in den USA auf ein blauhäutiges Doppelgänger-Mädchen namens Raven und schließt Freundschaft mit ihr. Die 1960er: Charles (James McAvoy) feilt an einer Doktorthese über den nächsten Evolutionssprung in der Geschichte der Menschheit, während Raven (Jennifer Lawrence) vor allem damit beschäftigt ist, ihre natürliche Erscheinungsform vor den Menschen zu verbergen. Nicht nur sie ist davon überzeugt, niemals akzeptiert zu werden: Ein rachsüchtiger Erik (Michael Fassbender) durchstreift die Welt auf der Suche nach untergetauchten Nazi-Tätern – und nach seinem Peiniger. Bei der Jagd nach Shaw treffen Erik und Charles, der seine Fähigkeiten inzwischen in den Dienst der CIA gestellt hat, erstmals aufeinander und freunden sich an. Gemeinsam spüren sie im Verborgenen lebende Mutanten wie den schüchternen Jungwissenschaftler Hank McCoy (Nicholas Hoult) auf und lehren sie, ihre Kräfte zu kanalisieren und gegen Shaw nutzbar zu machen. Und die Zeit drängt. Denn längst hat Eriks Nemesis die USA und die Sowjetunion zum apokalyptischen Showdown vor Kuba in Stellung gebracht...
Mit „X-Men: Erste Entscheidung" dringt Matthew Vaughn zum thematischen Kern der Marvel-Marke vor und erzählt, wie die Freundschaft zwischen Charles Xavier und Erik Lensherr zu der erbitterten Feindschaft wurde, mit der Bryan Singer das „X-Men"-Franchise zur Jahrtausendwende eröffnete. Der Konflikt der beiden Protagonisten hat eine Bedeutsamkeit, die weit über das Comicfilm-Genre hinausreicht: Gibt es Wege zur Utopie eines friedlichen Miteinanders zwischen Mensch und Mutant, zwischen Vertrautem und Fremdartigem, so wie sie Charles zu erträumen wagt – oder muss die Menschheit, wie von Erik propagiert, für ihre Grausamkeiten zur Verantwortung gezogen werden? Vaughn greift nicht einfach nur auf, was bei Singer bereits angelegt war, er arbeitet die Ambivalenz beider Positionen mutig heraus. Der hehre Idealismus fällt dem Telepathen Charles vor allem deswegen so leicht, weil er nie Ausgrenzung erfahren hat; seine Mutation ist unsichtbar, er kann sich leichtfüßig durch die Gesellschaft bewegen. Der jüdische Holocaust-Überlebende Erik hingegen hat die totale Entwürdigung von Leib und Seele unmittelbar erlebt. Zum nächsten Pogrom will er es nicht kommen lassen.
Die beiden Männer bewundern sich gegenseitig, ihre weltanschauliche Differenz jedoch ist unüberbrückbar – und das tragische Scheitern ihrer Freundschaft damit unabwendbar. James McAvoy und Michael Fassbender bringen die Facetten ihrer Figuren mit mitreißender Leidenschaft zum Ausdruck. Mit „X-Men: Erste Entscheidung" dürften beide endgültig in Hollywoods A-Liga ankommen. Umso ärgerlicher, dass ihr Duell auf einer so grob gezimmerten Bühne stattfinden muss. Die Eindimensionalität des Antagonisten Sebastian Shaw und die Versimplifizierung der Kuba-Krise verwässern die thematische Stärke des Films; da mag sich James-Bond-Fan Vaughn noch so augenzwinkernd auf die goldene Sean-Connery-Ära mit ihren Superschurken beziehen. Der ideologische Widerstreit zwischen Charles und Erik ist deswegen so bedeutsam, weil er Fragen nach der Erlösbarkeit einer gewalttätigen Menschheit aufwirft. Dass der Mutant und Einzeltäter Shaw jedoch gleichermaßen zum Dr. Frankenstein hinter dem sinnsuchenden Erik-Monster und zum größenwahnsinnigen Orchestrator der Kuba-Krise erklärt wird, nimmt die Menschheit wieder aus der Verantwortung – womit Eriks Trauma-Geschichte geradezu konterkariert wird.
Hier kollidieren zwei cineastische Perspektiven: Die herausfordernd differenzierte Erzählung um Charles und Erik, die dem Reflektionsstand des Superheldenkinos nach „The Dark Knight" und „Watchmen" entspricht – und die naive Weltdeutung der 1960er, einer Zeit, in der James Bond bei seiner Jagd nach Dr. No problemlos auf ethische Besinnung verzichten konnte. Gespart wurde wiederum ausgerechnet bei der Visualisierung des 1960er-Szenarios. Wäre da nicht der an Stanley Kubricks „Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben" angelehnte War Room – ein langsam aber sicher totgelaufenes Zitat –, könnte „X-Men: Erste Entscheidung" ohne weiteres als Gegenwartserzählung durchgehen. Schade, dass eine einzige „Mad Men"-Serien-Minute in puncto Ausstattungspracht und Abbildung zeitgenössischer Moden und Gepflogenheiten mehr zu bieten hat als zwei Stunden hochbudgetiertes Studio-Kino. Ob dieser Mangel an retrospektivem Gestaltungswillen zugunsten leichterer Konsumierbarkeit kalkuliert oder der knappen Produktionszeit geschuldet war, darüber kann nur spekuliert werden.
Schön anzuschauen ist „Mad Men"-Darstellerin January Jones als kristalline Mutantin Emma Frost im Eye-Candy-Outfit dabei selbstredend immernoch. Und ein unterhaltsamer, phasenweise packender Film ist Vaughn mit „X-Men: Erste Entscheidung" auch trotz verpasster Chancen gelungen. Alleine deshalb, weil sein jugendliches Darsteller-Ensemble um die übermächtigen Leitwölfe McAvoy und Fassbender überzeugt und die Fallhöhe der jungen X-Men so wunderbar herausspielt. Im Vordergrund stehen dabei Raven/Mystique und Hank McCoy/Beast. Jennifer Lawrence mausert sich nach ihrer oscarnominierten Leistung in „Winter's Bone" und ihrem Auftritt in Jodie Fosters „Der Biber" mehr und mehr zur Spezialistin für Mädchenfiguren, hinter deren kühler Fassade eine tiefe Emotionalität angedeutet wird. Subtil vermittelt sie ihre Zerissenheit zwischen Charles, mit dem sie mehr als nur platonische Zuneigung verbindet, und Erik, dessen Selbstbewusstsein sie durstig absorbiert.
Neben ihr trifft auch Nicholas Hoult stets den richtigen Ton. Als vorerst schüchterner Hank umschifft er alle Nerd-Klischees, bis er bei seiner Verwandlung ins blaugefellte Beast so richtig loslegen darf. Selbst arg gestelzte Dialog-Momente – etwa, wenn sich Raven und Hank beteuern, wie gerne sie ganz normale Teenager wären – werden von Lawrence und Hoult problemlos gemeistert. Wie befriedigend wäre es gewesen, Vaughns tollen Darstellern bloß beim Ausspielen ihren Figuren zuzuschauen! Freilich, ohne Action läuft's nicht im Sommerkino. Choreographie und Animation sind hübsch anzuschauen, hinken aber hinter Comickino-Standards à la Jon Favreau („Iron Man"), Christopher Nolan („The Dark Knight"), Zack Snyder („Watchmen") oder Kenneth Branagh („Thor") her.
Fazit: Für seinen unter enormem Zeitdruck abgedrehten Film darf sich Matthew Vaughn guten Gewissens auf die Schulter klopfen. Denn mit „X-Men: Erste Entscheidung" hat er nicht nur ein Franchise revitalisiert, sondern einen trotz Schwächen sehenswerten und spaßigen Beitrag zum Superhelden-Genre geleistet.