Seit dem Goldenen Bären für Semih Kaplanoglus „Bal - Honig" bei der Berlinale 2010 ist es offiziell: Das neue türkische Autorenkino gehört momentan zu den Lieblingen des internationalen Festivalzirkus‘. Semih Kaplanoglus Minimalismus und seine ästhetische wie auch gedankliche Distanz zu unserer extrem beschleunigten Gegenwart passen perfekt ins Raster eines Kinos, das vor allem von Festivalmachern und -Jurys, von Kritikern und Cinephilen geschätzt und gefördert wird. Eine gewisse Form von Realismus, den Kaplanoglu dann auch noch ins Spirituelle und damit zugleich in einen kapitalismuskritisch wirkenden Antimaterialismus überhöht, steht nun einmal hoch im Kurs. Insofern war der Hauptpreis für „Bal" keineswegs eine Überraschung, sondern nur Ausdruck eines gerade dominanten Trends. Ihm dürfte nun auch Seyfi Teomans „Tatil Kitabi" seinen deutschen Kinostart verdanken. Zudem wirkt das Langfilmdebüt des jungen türkischen Filmemachers fast wie ein Komplementärwerk zu Kaplanoglus „Bal". Schließlich steht auch im Zentrum seines leisen Dramas ein kleiner Junge, dessen Welt durch eine Familientragödie in Unordnung gerät.
Der zehnjährige Ali (Tayfun Günay) hat zwar ein paar Freunde, mit denen er gelegentlich spielt. Aber meistens ist er doch alleine. So auch an seinem letzten Schultag vor den Sommerferien. Der Lehrer verteilt gerade die „Sommerbücher", Hefte mit kleinen Geschichten und Übungen, Bildern und Rätseln, an die Schüler und entlässt sie dann in die Sommerferien. Ali hat die Schule kaum verlassen, als ihm ein größerer Junge auflauert und sich einfach das Buch nimmt. Das war es für ihn mit diesem wundersamen Heft, dessen Aufgaben der Musterschüler unbedingt lösen wollte. Der Versuch, ein neues Exemplar im Schreibwarengeschäft seiner Heimatstadt Silifke zu kaufen, scheitert. So wurde Ali auch noch die letzte Freude genommen, die seine Ferien etwas schöner gestaltet hätte. Sein Vater Mustafa (Osman Inan) hatte allerdings sowieso ganz andere Pläne für seinen kleinen Sohn. Ali soll ihn in den Ferien ins Büro begleiten und Kaugummis auf der Straße verkaufen. Und was Mustafa sagt, ist in seiner Familie Gesetz. Das bekommt auch Alis älterer Bruder Veysel (Harun Özüağ) zu spüren, der gerne die Militärakademie verlassen und in Istanbul Betriebswirtschaft studieren würde.
Akdeniz im heißen anatolischen Süden der Türkei gilt als aufstrebende Wirtschaftsregion. In Sachen Geld und Geschäfte hat die Moderne ohne Frage Einzug in der nah an der Mittelmeerküste gelegenen Kleinstadt Silifke gehalten. Davon zeugt auch Mustafas Ehrgeiz und Geschäftssinn. Er ist ständig nur unterwegs und immer dabei, seinen Handel mit Zitrusfrüchten und anderen Landwirtschaftsprodukten weiter auszubauen. Zwischen seiner Firma und der kleinen Metzgerei, die sein jüngerer Bruder Hasan (Taner Birsel) von ihrem Vater übernommen hat, nachdem er geschieden und ohne Studienabschluss aus Ankara zurückgekehrt war, scheinen regelrecht Welten zu liegen.
Vergangenheit und Zukunft kollidieren mit diesen beiden Unternehmen genauso wie – wenn auch unter umgekehrten Vorzeichen – in den Haltungen der beiden Brüder. Mustafa ist nur in wirtschaftlichen Dingen ein Mann des 21. Jahrhunderts. Ansonsten gebärdet er sich als klassischer Familientyrann, der kaum einmal etwas sagt und weder seiner Frau noch seinen beiden Söhnen zuhört. Die Großstadt ist für ihn immer noch feindliches Gebiet, auf dem die für ihn so zentralen konservativen Werte zersetzt werden. Hasan ist zwar einst in Ankara gescheitert und steht seither dem großstädtischen Leben auch mit einer gewissen Skepsis gegenüber. Aber seine einstigen Träume und liberalen Ideen trägt er immer noch im Herzen. Letztlich ist er einer von denen, die ein wenig Offenheit in die karge anatolische Provinz gebracht haben. Er hat zu einem Gleichgewicht zwischen Tradition und Moderne gefunden. Das allerdings sehr fragil ist und ihm nicht die Kraft gibt, Mustafa entschlossen gegenüber zu treten.
Wie Semih Kaplanoglu ist auch Seyfi Teoman stilistisch betrachtet ein Traditionalist, der sich ganz bewusst auf (neo-)realistische Ideen und Konventionen beruft. Seine langen, meist sehr ruhigen Einstellungen sind geradezu perfekt komponiert. Sie wirken ungeheuer natürlich, so als hätte sie ein Dokumentarfilm-Team aus dem Stehgreif aufgenommen, und zeugen zugleich von einem virtuos künstlerischen Gespür für Außen- und Innenräume und für die Menschen, die sich in ihnen bewegen. Schon die erste Einstellung, die einen Blick auf eine karge Felslandschaft und das Meer hinter ihr freigibt und sich dann nach und nach mit wild durcheinander laufenden Schülern in ihren leuchtend blauen Hemden füllt, bis schließlich Ali ganz nah vor der Kamera ins Bild tritt, ist eine wahre Meisterleistung.
Aber trotz des extrem sorgfältigen Aufbaus eines jeden Bildkaders wirkt Teomans Film offener als der von Kaplanoglu. Während sich „Bal" ganz bewusst mit seinen naturmystischen Impressionen aus den türkischen Bergwäldern vor der modernen Welt verschließt, sucht „Tatil Kitabi" nach Wegen in freiere Räume. Doch die zu erobern, fällt allen in „Tatil Kitabi" ungeheuer schwer. Zu stark lasten die Traditionen der Väter und die Macht des Geldes auf den Menschen. Immer wieder thematisiert Teoman den Fetischcharakter des Geldes, das im Endeffekt zum reinen Selbstzweck verkommt.
Als Mustafa nach einem Gehirnschlag ins Krankenhaus kommt, kann er nur an das Bargeld denken, das noch in seinem Transporter liegt. Es ist ihm wichtiger als seine Gesundheit und seine Familie. So setzt er eine fast schon obsessive Suche nach diesem Vermögen in Gang, die für Hasan in der bitteren Erkenntnis gipfelt, dass sein Bruder ein noch viel kleinlicherer Mann ist, als er sowieso schon dachte. Spätestens in diesem Moment der Erkenntnis verwandelt sich Teomans Erstlingswerk noch einmal ganz deutlich. Aus dem Porträt einer Familie wird das Bild eines Landes, das an einem Scheideweg steht. Noch ist keine endgültige Entscheidung in der türkischen Gesellschaft über ihre zukünftige Richtung gefallen, alles ist noch denkbar. Aber gleich welchen Weg sie gehen wird, er wird nicht ohne Verluste und Enttäuschungen sein.