Ausgerechnet in Hongkong gibt es einen Regisseur, der auch heute noch die Errungenschaften der Nouvelle Vague in sein Oeuvre einfließen lässt. Johnnie To, Bewunderer dieser epochemachenden Stilrichtung des französischen Kinos der 1950er Jahre, liefert seit geraumer Zeit den filmischen Beweis dafür, dass Leichtigkeit, Eleganz und leise Melancholie manchmal mehr Bedeutung haben als eine realistisch erzählte, originelle Geschichte. Verneigte er sich in seinem vorangegangen Werk Sparrow noch vor den Nouvelle-Vague-Meistern François Truffaut und Jean-Luc Godard, erinnert sein neuer schnörkelloser Rachethriller „Vengeance“ an die Filme des Thrillerexperten Jean-Pierre Melville. Der in Cannes 2009 im offiziellen Wettbewerb gelaufene Neo-Noir-Krimi markiert die erste Kooperation von Tos Filmfirma Milkyway Image mit einem französischen Produzententeam. „Vengeance“ wirkt somit wie ein schmackhaftes Hors d'œuvre vor dem eigentlichen Filmhauptgang The Red Circle, dem starbesetzten Remake des Melville-Klassikers „Vier im roten Kreis“, das To in zwei Jahren in die Kinos bringen will.
Der abgebrühte Costello (Johnny Hallyday) ist ein ehemaliger Killer, der als Koch und Restaurantchef seinen Lebensabend in aller Ruhe genießen will. Doch dann ereilt ihn die schreckliche Nachricht, dass die chinesische Familie seiner Tochter Irene (Sylvie Testud, Jenseits der Stille) brutal ermordet wurde. Als Costello die schwer verletzte Irene im Krankenhaus besucht, bittet sie ihren Vater unter Tränen, den Tod ihres Mannes und ihrer beiden Kinder zu rächen. Costello reist nach Hongkong, wo er trotz Sprachdefiziten, Ortsunkenntnis und eines stetig schwindenden Gedächtnisses auf eine von Kwai (Anthony Wong, Infernal Affairs) angeführte Killerbande trifft, die bereit ist, ihm für den Preis seines Restaurants zu helfen. Dieses Versprechen gilt auch noch, als Taktiker Kwai, Nimmersatt Lok (Lam Suet, Sasori) und der skeptische Chu (Lam Ka-Tung, Triangle) erfahren, dass ausgerechnet ihr eigener Boss, der eiskalte Schwerverbrecher George Fung (Simon Yam, Election), hinter den Auftragsmorden steht…
Dreckige Rachefilme sind aktuell en vogue. Während Liam Neeson in 96 Hours erfolgreich nach seiner Tochter fahndete, wird im kommenden Frühjahr Mel Gibson in Martin Campbells Edge Of Darkness der Selbstjustiz frönen. Gemein haben all diese Werke einen charismatischen Hauptdarsteller, dem man auch im gesetzten Alter eine solche Actionrolle abkauft. Johnnie To schwebte für „Vengeance“ als Idealbesetzung Alain Delon vor, der in Melvilles Meisterwerk Der eiskalte Engel 1967 den Prototyp des kompromisslosen Killers verkörperte. Doch Delon war mit Wai Ka-Fais Skript nicht einverstanden und lehnte die Hauptrolle ab. Als Ersatz kam für die Produzenten von „Vengeance“ nur der berühmte Sänger und Gelegenheitsschauspieler Johnny Hallyday (Fahrt zur Hölle, ihr Halunken, Die purpurnen Flüsse 2) in Frage. Doch To kannte Frankreichs Altrocker, der 2000 unter dem Eiffelturm vor unglaublichen 750.000 Menschen auftrat, nicht. Erst nach einem persönlichen Treffen stimmte Hongkongs Regieaushängeschild der Besetzung zu.
Und tatsächlich ist Hallyday dann auch das eigentliche Problem von „Vengeance“. Sein maskenhaftes, verlebtes und nahezu unbewegliches Gesicht mit den milchigen Schlangenaugen lässt sogar einen Mickey Rourke nahezu jugendlich wirken. Mimisch kommt Hallyday über einen verkrampften Stoizismus nicht hinaus, der auch noch von seinen zischend heraus gespukten, manchmal unfreiwillig komischen Satzfetzen akzentuiert wird. Glücklicherweise besetzte To die anderen wichtigen Rollen mit bewährten Hongkong-Stars, die allesamt seit Jahren zu seinem festen Schauspielensemble gehören. Hervorzuheben sind hier Anthony Wong, der mit minimaler Gestik und Mimik seine Killerrolle kongenial umreißt und ein höhnisch grinsender Simon Yam als sein menschenverachtender Gegenspieler.
Während der Plot mit einem Minimum an Nebenhandlungssträngen und dramaturgischen Überraschungen auskommt, beweist To in „Vengeance“ einmal mehr seine handwerkliche Meisterschaft. Ob punktgenaue Schnitte, elegante Kamerafahrten, ungewöhnliche Bildeinstellungen oder eine stimmungsvolle Ausleuchtung: Jede Szene wirkt bis ins Detail durchdacht. Fließend gleitet eine kunstvoll arrangierte Sequenz in die nächste über. Nur in einer merkwürdig mystisch überhöhten Totenauferstehungspassage vergreift sich To im Tonfall. Tos ganze künstlerische Finesse kulminiert in einer Actionsequenz in einem finsteren Wald, die in ihrer Melange aus gefährlichen Standbildern und Zeitlupen-Gewaltballett Tos elegante Unaufgeregtheit mit John Woos Heroic-Bloodshed-Kino faszinierend verbindet.
Bewundernswert ist auch, dass To zwischen den knüppelharten Shoot-Outs den Humor nicht vergisst. Besonders in der ständigen Sprachbarriere zwischen Costello und seinen Auftragskillern, sowie in einer witzigen Wettwaffenbausequenz beim gemeinsamen Mittagessen kommt dieser wunderbar leichte Tonfall zum Tragen, der die ansonsten äußerst düstere Grundstimmung von „Vengeance“ deutlich auflockert.
Fazit: Mit „Vengeance“ beweist Hongkongs Regievirtuose Johnnie To einmal mehr, dass er zu den weltweit besten Stilisten des Actionkinos gehört. Nur ein hölzerner Johnny Hallyday in der Hauptrolle verhindert, dass der Rachethriller an die Qualität ähnlich gelagerter Genrewerke wie 96 Hours heranreicht.