„Nach ‚Babel‘ war ich so erschöpft, dass ich im Spaß gesagt habe, mein nächster Film wird nur einen Charakter haben, in einer einzigen Stadt spielen, linear erzählt sein und in meiner eigenen Sprache gedreht werden." - 2010, 63. Filmfestspiele von Cannes, da steht Alejandro González Inárritu und hat genau dieses Werk am Start, über das er damals nur gewitzelt hatte. Obwohl dieser Ansatz des formal Simplen völlig von seinen Vorgängern abweicht, trägt sein schwermütig-wuchtiges Melodram „Biutiful" dennoch unverkennbar die Handschrift Inárritus. Die grandiose Inszenierung schafft Linderung für den Zuschauer, dem knapp zweieinhalb Stunden das Letzte abverlangt wird, denn „Biutiful" ist ein brutaler emotionaler Tiefschlag in die Magengrube - schwer zu ertragen, aber brillant in Szene gesetzt. Allerdings geht dem Film mitunter die erzählerische Finesse ab, die Inárritus „Amores perros", „21 Gramm" und „Babel" zu Meisterwerken gemacht haben.
Der geschiedene zweifache Familienvater Uxbal (Javier Bardem) lebt in einem dreckigen Appartement in einem heruntergekommenen Vorort Barcelonas und trägt schmuddelige Klamotten. Sein täglicher Überlebenskampf ist kräftezehrend. Doch Uxbal ist unermüdlich: Das Multitalent protegiert einen afrikanischen Schwarzmarkthändlerring durch seine Kontakte zur Polizei, vermittelt illegale chinesische Bauarbeiter, die für einen Hungerlohn schuften und kann mit den Toten reden – mit dieser Gabe nimmt er verzweifelte Seelen aus. So schafft er das Geld ran, um seine Familie über die Runden zu bringen. Er kümmert sich liebevoll um seine beiden Kinder Ana (Hanna Bouchaib) und Mateo (Guillermo Esterella), während seine manisch-depressive und hyperaktive Ex-Frau Marambra (Maricel Álvarez) ihm ständig im Nacken sitzt und ihn bedrängt. Er will sie langsam wieder an die Gesellschaft der Kinder gewöhnen, aber sie hat Schwierigkeiten, ihre Nerven unter Kontrolle zu halten. Immer schwerer gezeichnet von einer Prostata-Krebs-Erkrankung im Endstadium versucht Uxbal in den letzten Monaten seines Lebens, die Dinge zu ordnen...
Innáritus Ankündigung eines „kleinen" Films ist irreführend: Denn bis auf die diesmal fehlende üppig verzweigte und verschachtelte Erzählweise ist „Biutiful" in seiner Epik ebenso breit angelegt wie die bisherigen Werke des Mexikaners. Obwohl er den Fokus diesmal nur auf einen einzelnen Charakter setzt, stopft er sein Melodram mit Inhalten voll. In der Anhäufung von Trostlosem ist „Biutiful" ein furchterregender Film: Einem emotionalem Tiefschlag folgt immer wieder noch einer und noch einer. Innaritu hämmert gleichsam auf seine Zuschauer ein, packt sie am Kragen, würgt sie, dreht sie durch den Wolf und drückt sie auf den Boden. Uxbal kämpft still gegen den Krebs, hat um das Heil seiner Kinder zu fürchten und zudem die Last zu tragen, indirekt für den Tod von 25 Menschen verantwortlich zu sein. Doch Uxbal ist ein aufrechter, ein guter Mensch, der nur bei der Wahl seiner Methoden den Weg des Illegalen nicht scheut. Aber das ist reiner Pragmatismus. So nutzt er Menschen in Notsituationen zwar finanziell aus, aber kümmert sich dennoch rührend um sie, weil er sich moralisch in der Verantwortung sieht. Warum Uxbal diese Art von Existenz gewählt hat, lässt Inárritu im Unklaren, er liefert keine Erklärungen. Es bleibt dem Betrachter überlassen, sich die Umstände auszumalen, die den Protagonisten dorthin gebracht haben, wo er sich zu Beginn befindet.
In diesem Drama von universellen Dimensionen schwingt sich Oscarpreisträger Javier Bardem („No Country For Old Men") zu einer mitreißenden Leistung auf. Überragend. Herzzerreißend. Sein Porträt eines zum Untergang Verdammten ist intim, zurückgenommen und doch kraftvoll. Sie wird durch Inárritus intensive, unter Hochspannung stehende Inszenierung noch in ihrer Wirkung verstärkt. Virtuos spielt der Regisseur auf der Klaviatur der menschlichen Emotionen, die Folge der intimen Szenen wird durch nur wenige, aber dafür überragend umgesetzte Actionsequenzen unterbrochen. Wenn die Polizei den afrikanischen Schwarzhändlerring hochnimmt oder wenn in einer Disco gefeiert wird, ist die Vitalität und Dynamik dieser Sequenzen unglaublich. Atmosphärisch kongenial unterstützt wird das Ganze durch einen treibenden Score, der von orchestralen Klängen bis zu einer einfachen Gitarre die volle Brandbreite an musikalischen Ausdrucksmitteln nutzt. Kameramann Rodrigo Prieto („Brokeback Mountain") fängt seinerseits das urbane Unterschicht-Barcelona in all seinem Elend und Dreck mit fantastischen Licht/Schatten-Effekten ein und lässt „Biutiful" unter Einsatz eines Blaufilters düster, aber unglaublich gut aussehen.
Dramaturgisch hat „Biutiful" kaum Überraschungen zu bieten, die verschiedenen Stationen auf Uxbals Leidensweg sind allesamt schon ähnlich auf der Leinwand zu sehen gewesen und der Handlungsverlauf ist letztlich recht vorhersehbar. Aber es geht Inárritu nicht darum, durch ständige unerwartete Wendungen für Spannung zu sorgen, stattdessen schlägt er einen schwermütigen, lyrischen Grundton an und arbeitet sich konsequent an einem Thema ab, das ihm am Herzen liegt: die Bedeutung und die Rolle der Väter in der heutigen Zeit. Uxbal versucht, der beste Daddy der Welt zu sein und seine Kinder vor Unglück zu bewahren, zugleich hadert er damit, dass er selbst seinen Erzeuger praktisch nicht gekannt hat und dieser schon früh verstorben ist. Es zerreißt ihm das Herz, dass er seinen Nachwuchs schon bald zurücklassen muss.
Fazit: „Biutiful" ist Alejandro González Inárritus bisher intimster Film. Der Filmemacher, der eindrucksvoll unterstreicht, dass er längst vom begnadeten Talent zum etablierten Meisterregisseur aufgestiegen ist, konzentriert Leid in epischen Dimensionen und präsentiert ein vor Kraft berstendes, bitteres, intensives Charakterporträt, das durch seinen überragenden Hauptdarsteller Javier Bardem geadelt wird. Und dennoch ist die Empfehlung mit einem Warnhinweis zu versehen, denn das Zuschauen ist schmerzhaft und das Gesehene geht an die Nieren. Wer aber eine stabile Psyche mitbringt, sollte unbedingt einen Blick auf Inárritus meisterliches Filmkunstwerk wagen.