Das Prädikat „Indie-Perle" birgt gewisse Untiefen: Häufig genug findet sich in dieser gut gemeinten Kennzeichnung zugleich eine Verniedlichung, etwa wenn ein Film „charmant" ist statt „virtuos" oder „rührend" statt „bewegend". Es ist für Filmemacher mit begrenztem Budget und guten Ideen nicht leicht, solche positiv gemeinten Abwertungen unnötig erscheinen zu lassen – das gilt umso mehr, wenn der fragliche Film tatsächlich mit einem (zumindest in der Wahrnehmung deutscher Zuschauer) unzweifelhaft „drolligem" Element auftrumpft. So ist „Der Freund" in Schweitzer-Deutsch gedreht und hochdeutsch untertitelt. Dass der Film trotzdem nie in den zwielichtigen Bereich der niedlichen Indie-Produktion abgleitet, liegt vor allem am guten, umsichtigen Drehbuch und am hervorragenden Schauspieler-Ensemble. So gelingt Regisseur Micha Lewinsky eine Tragikomödie, die ebenso „charmant" wie „bewegend" ist und nicht umsonst der Schweizer Oscar-Kandidat 2009 war.
Emil (Philippe Graber) ist Außenseiter wider Willen: Gehemmt und unscheinbar, gelingt es ihm nicht einmal, Smalltalk zu führen, geschweige denn bleibende Kontakte zu schließen. Zu allem Überfluss schwärmt er für die unnahbare Sängerin Larissa (Emilie Welti), tapsig versucht er immer wieder, sie anzusprechen und kennenzulernen. Schließlich ist es jedoch Larissa selbst, die mit einem kuriosen Anliegen an ihn herantritt: Sie bittet Emil, sich vor ihren Eltern als ihr Freund auszugeben. Als Larissa plötzlich und tragisch verstirbt, beschließt Emil, seine Rolle auszufüllen – dummerweise verguckt er sich dabei in Larissas Schwester Nora (Johanna Bantzer)...
Bereits die Eröffnungsszene des Films macht es dem Zuschauer schwer, sich zu entziehen. Emil ist unterwegs durch das nächtliche Zürich zu einem Konzert von Larissa im Helsinki Club, geisterhaft ist die Stimme der Sängerin zu hören - und ebenso ungreifbar sind die Zeilen, die sie singt: „Very, very close to heaven / So unobserved you let it slide." Die Lieder von Emilie Welti, die unter dem Künstlernamen Sophie Hunger schon längst kein Geheimtipp mehr ist, gehen eine extrem effektvolle Verbindung mit der atmosphärisch dichten Bildsprache des Films ein. Die größte ästhetische Qualität von „Der Freund" ist dabei die stets zurückhaltende und inhaltsbezogene Inszenierung. So wie Weltis Lieder auf das Grundsätzliche reduziert sind, gibt auch die Bildregie den Blick frei auf die Essenz von Story und Schauspiel.
Das Darsteller-Ensemble lässt die Figuren, abseits möglicher typologischer Klischee-Umsetzungen, lebensecht und liebenswert erscheinen. Philippe Graber ist in seiner Rolle als Emil angemessen verquollen und resignativ, bei aller Orientierung am Außenseiter-Stereotyp aber doch markig genug, um auf ganzer Linie zu überzeugen. Johanna Bantzer als Nora meistert ebenso bravourös die schwierige Aufgabe, selbstbestimmt-gradlinig und zugleich verunsichert zu wirken. Auch Emilie Welti, als Künstler bekannt unter ihrem Pseudonym Sophie Hunger, entfaltet in ihrer kleinen Rolle als charismatische Sängerin, die sie auch in Wirklichkeit ist, eine starke Leinwandpräsenz. Wesentliches Fundament für diese Leistungen ist ein Drehbuch, das mittels unprätentiöser Dialoge und gekonnter Akzente der unwahrscheinlichen Geschichte eine erstaunliche Glaubwürdigkeit abringt. Lewinsky versteht sich darauf, kleine, aber sehr wirkungsvolle Ideen zu entwickeln, die in ihrer Summe den Film tragen. Dazu gehört etwa eine Erinnerung an Larissa, die als Kind lange das „R" nicht richtig sprechen konnte und deshalb ausgerechnet im Chinarestaurant „Flühlingslolle" bestellte. Dass solche Einfälle nicht klamaukig wirken, ist Teil der Magie des Films.
Ein weiteres Lob gebührt dem Drehbuch für die Bearbeitung des Themas Tod, aus dem man durch Rührseligkeiten leicht emotionales Kapital schlagen kann. „Der Freund" indes wahrt stets Angemessenheit und Contenance. Dasselbe gilt für die Menge an ambivalenten Inhalten, die der Film transportiert und elegant gegeneinander stellt: „Der Freund" handelt einerseits von Abhängigkeiten, denn Larissas Familie lernt erst durch Emil zu trauern, während Emil erst durch Larissas Tod in die Gesellschaft findet. Gleichzeitig jedoch ist es ein Film über Autonomie, über Emils und Noras Loslösung aus familiären Zwängen.
Fazit: „Der Freund" setzt vor dem Hintergrund einer zurückhaltenden Inszenierung eine Handvoll starker Ideen und Dialoge wie souveräne Striche in einer ausdrucksstarken Skizze. Es ist ein Film, der sicherlich keine stilistischen Innovationen einführt, in dessen einfühlsame Inszenierung man sich aber trotzdem ein gutes Stück verlieben kann.