Anders als seine Altersgenossen Sean Connery oder Gene Hackman verschwendet der britische Edelmime Sir Michael Caine noch keinen Gedanken an den Ruhestand. Unter der Regie von Christopher Nolan ist er in den Nullerjahren bereits vier Mal als mahnender Mentor entfesselter Heroen aufgetreten („Batman Begins", „The Prestige", „The Dark Knight", „Inception"). Doch jetzt heisst es: zurück zu den eigenen mörderischen Wurzeln! In den Siebzigern wurde Caine vor allem durch seine kaltblütigen Rollen in den Thrillerklassikern „Get Carter" und „Ipcress - Streng geheim" bekannt. Ganz im Sinne von Clint Eastwoods „Gran Torino" ist Daniel Barbers Langfilmdebüt „Harry Brown" so zum Spiel mit der Filmographie seines Hauptdarstellers, gleichzeitig aber auch eine Antithese zum kathartischen Eastwood-Spätwerk geworden. Wenn Caine als alternder, einsamer und fremdelnder Kriegsveteran zum Aufstand gegen seine kriminelle Umwelt bläst, hat pädagogische Besinnlichkeit keinen Raum mehr - stattdessen fliegen die Fetzen. Als sensibel inszeniertes und atmosphärisch dichtes Charakterportrait ist Barbers Vigilanten-Drama - nicht zuletzt dank Caines zwingender Darstellung - ein grandioser Erfolg. Die Problematisierung der Selbstjustiz Harry Browns im Kontext sozialer Brennpunkte fällt hingegen - Charles Bronson lässt grüßen! – bedenklich reaktionär aus.
In einer heruntergekommenen Wohnblockbatterie irgendwo vor London verlebt Rentner und Kriegsveteran Harry Brown (Michael Caine) einen traurigen Lebensabend. Seine Tochter ist lange verstorben, seine Frau liegt im Koma. Ob sie ihn noch hören kann, ob ihn überhaupt noch jemand hören kann, das weiss er nicht. Vor seiner Haustür spielen sich tagtäglich Szenen der Gewalt ab. Bewaffnete Jugendcliquen vertreiben sich ihre Langeweile mit Drogendeals und willkürlichen Übergriffen auf ihre Blocknachbarn - bis Harrys letztverbliebener Freund und Schachkumpel Len (David Bradley) zur Machete greift und in einem Akt misslungener Selbstbehauptung sein Leben lässt. Zwar schalten sich daraufhin Detective Alice Frampton (Emily Mortimer) und Kollege Terry Hicock (Charlie Creed-Miles) ein, handfestes Eingreifen aber erhofft Harry sich vom gelähmten Staatsapparat längst nicht mehr. Und so klopft es eines Nachts an der Tür des Schwarzmarkthändlers Stretch (Sean Harris), der einen alten Kauz auf der Suche nach einer Handfeuerwaffe hereinbittet...
Unbequem aber wahr: auch das Kino als Erfüllung kollektiver Macht- und Durchsetzungsphantasien stolpert permanent über Fragen, die keine Antworten kennen - etwa die der Legitimierbarkeit von Selbstjustiz. Als diesbezüglich bemerkenswert kritisch haben sich in den vergangenen Jahren ausgerechnet Comicverfilmungen erwiesen: die Verunsicherung über das Wesen wahrer Gerechtigkeit wurde als Themenschwerpunkt von „The Dark Knight" bis „Watchmen" rezipiert. Doch zum klassischen Selbstjustiz-Thriller gibt es einen Unterschied: Die Antagonisten moderner Comicverfilmungen sind überlebensgroße Figuren mit deutlichem Symbolcharakter, während sich die etwas anderen Übeltäter seit Bronsons erstem Racheakt „Ein Mann sieht rot" von 1974 vor allem aus sozial benachteiligten Räumen rekrutieren. An diesem Punkt wird die Wahl der Perspektive entscheidend: Soll vom übermächtigen Gefühl der Ausweglosigkeit gegenüber erfahrener Gewalt erzählt werden? Angst ist nicht rationalisierbar und bedarf als Filmthema keinerlei ethischer Konnotation. Oder soll soziopolitisch kommentiert werden? Dann muss die Konstitution des Feindbildes reflektiert werden, dann muss der Vergeltungsakt schmerzhaft ambivalent ausfallen.
Auf der Basis eines Drehbuchs von Gary Young versucht Daniel Barber sich an beiden Varianten zugleich und führt damit keine befriedigend zuende. Anfangs steht der Film im Zeichen bewegender Empathie. Mit phantastisch komponierten Bildern wird in den grauen Alltag Harry Browns eingeführt. Eine sehnsüchtig auf einer leeren Doppelbetthälfte ruhende Hand, eine so routiniert-lustlose Frühstückszeremonie, ein Blick in ein lebensmüdes Gesicht - und wir sind intimer mit Harry Brown vertraut, als es eine verbale Exposition je leisten könnte. Die Zerbrechlichkeit, die Michael Caine seiner Figur mit kleinen Gesten und leisen Tönen verleiht, fordert bedingungslose Sympathie ein. Derart vorbereitet gerät Harrys Schwarzmarkttrip zur ungeheuer intensiven tour-de-force. Wenn er durch ein Purgatorium verrottender Räumlichkeiten, drogenversehrter Körper und dämonischer Menschfratzen wandelt, inszeniert Barber eine atemberaubende Innenansicht existenzieller Angst vor der Welt jenseits der eigenen Türschwelle.
Mit dem ausführlichen Parallelplot um Alice Frampton jedoch verlässt Barber seinen Protagonisten und damit dessen filigran etablierte, explizit subjektive Perspektive auf den Brennpunkt immer wieder, um den soziopolitischen Kontext einzufangen. Ob im Verhörtrakt des lokalen Präsidiums oder während eines eskalierenden Polizeizugriffs - indem Barber totalitäre Staatsgewalt und die absolute Verdorbenheit urbaner Unterschicht weit ab von Harrys Erlebnishorizont bebildert, händigt er seinem Vigilanten einen moralischen Blankoscheck aus. Aus einer tragischen Geschichte über die brutale Eruption eines mit dem Rücken zur Wand stehenden Oldtimers entspringt damit doch wieder zynische Selbstjustiz-Apologetik: Schön, dass endlich mal jemand den sozialen Abfall zur Halde karrt! „Harry Brown" ist ein fesselnd gespielter und gekonnt inszenierter Film, der aufgrund konzeptioneller Unentschlossenheit einen üblen Nachgeschmack hinterlässt. Sollte Caine seinen pensionierten Kollegen eines Tages folgen, dann hoffentlich auf einer lichteren Note.