Musik und Kino gehen Hand in Hand. Dabei ist die enge Verknüpfung der beiden Bereiche keineswegs ein Produkt der Gegenwart, oder etwa ein Effekt aus den musiküberfrachteten Bollywoodfilmen. Die wichtigsten Stummfilme kamen bereits mit ausgefeilten Kompositionen für Orchester daher, der frühe Tonfilm förderte dann gar ein ganz neues Genre in Hollywood zutage, das als Musical- oder Revue-Film bezeichnet wird und das auf den zeitgleichen Erfolg der Broadway-Musicals zurückzuführen ist. In jüngster Zeit verbinden sich Musik und Kino vor allem in der Form, dass Stars der Musikszene ein Bio-Pic gewidmet wird, das von Einzelschicksalen (Control, Falco) oder Erfolgskarrieren (Shine A Light) erzählt. Insofern versucht „Berlin Calling“ von Hannes Stöhr etwas davon Verschiedenes und knüpft eher an die ältere Tradition an und frischt das Genre damit gleichzeitig auf. Gezeigt wird die fiktive Geschichte des DJ Ickarus, der während der Produktion seines neuen Albums immer wieder in den Sog des Drogendschungels abzugleiten droht. Die Musik und die beeindruckend authentische Partyszene Berlins dominieren „Berlin Calling“, obwohl auch ernste und bedeutungsschwere Themen in Anschlag gebracht werden.
DJ Ickarus (Paul Kalkbrenner) ist ein aufstrebender Discjockey der Berliner Szene. Sein Alltag ist, neben den vielen Auftritten in Clubs, von seinem übermäßigen Drogenkonsum geprägt. Trotz der verheerenden Nebenwirkungen scheint für Ickarus darin auch ein Teil seiner Kreativität begründet. Diese benötigt er auch, um sein neues Album, das ein großer Erfolg werden soll, fertig zu stellen. Dabei hilft ihm seine Freundin und Managerin Mathilde (Rita Lengyel). Sie ist die einzige, die ihn stützt, wenn er den Boden unter den Füßen verliert. Als Ickarus nach einem Auftritt im Club einen völligen Zusammenbruch erleidet, wird er in die Psychiatrie eingeliefert und dem Polytoxikomanen dort dringend zu einer Entziehungskur geraten. Nach einigem Zögern willigt er ein, da ihm seine Ärztin Prof. Petra Paul (Corinna Harfouch) erlaubt, in der offenen Station weiter an seinem Album zu arbeiten. Doch die Auszeit, die Ickarus sich gönnen sollte, währt nicht lange, bis er wieder ein ganzes Wochenende im Drogenrausch verbringt. Nach und nach lassen alle von ihm ab, scheinen ihn aufzugeben…
Ganz erstaunlich ist der Balanceakt, den „Berlin Calling“ meistert. Denn eigentlich steckt der Film, sowohl an den Haupt- als auch den Nebenschauplätzen, voller Konflikte und gewichtiger Themen - vom Drogenmissbrauch in der Partyszene bis hin zum Künstler zwischen Genie und Wahnsinn. Trotzdem gelingt es Regisseur und Drehbuchautor Hannes Stöhr, das Ganze mit einer gewissen Leichtigkeit und einer beeindruckenden Schnelligkeit zu erzählen. Die Erzählgeschwindigkeit scheint dabei fast den Rhythmus der Elektro-Beats nachzuahmen. In vielen schnellen, kleinen, kreisenden Bewegungen mäandern die Ereignisse um DJ Ickarus und wirken dabei rauschhaft meditativ. Die Gefahr hier ins Verklärend-Esoterische abzugleiten, verhindert der krasse realistische Ton, in dem erzählt wird. Der authentische Look der Berliner Szene rührt zum Teil daher, dass echte Partys veranstaltet und die Eindrücke mit Handkameras eingefangen wurden. Im Vergleich dazu sind lediglich die Szenen in der Psychiatrie etwas zu grotesk und überzogen geraten.
Das ausgeklügelte Drehbuch hält zudem für Interpretationswillige genügend Stoff bereit, aus dem Porträt des Musikus ein mythisches Geschehen herauszulesen. Sein Name, der eine Kombination aus der mythischen Sagengestalt Ikarus und dem auf seinen Egozentrismus anspielenden Berlinerischen Ick (für „Ich“), macht den DJ Ickarus zu einem Helden, dem, wenn er mit seinen Flügeln aus Federn und Wachs der Sonne zu Nahe kommt, der Absturz ins Verderben droht. In der Figur des Vaters von Ickarus, der von Beruf Pastor und Organist ist, kommen gleich zwei Vorlagen zusammen. Zum einen sicherlich Daedalus, dem mythologischen Vater von Ikarus, da ja auch Ickarus die musikalische Ader vom Vater geerbt hat. Aber auch biblische Motivkreise finden sich wieder, wie dem Gleichnis vom verlorenen Sohn. Das Angenehme an „Berlin Calling“ ist aber nun, dass diese überlagerten Sinnebenen sich nicht aufdrängen, sondern als Klangcluster im Hintergrund sacht mitschwingen.
Der Hauptdarsteller von „Berlin Calling“, Paul Kalkbrenner, dessen Bekanntheitsgrad als DJ inzwischen weit über die Grenzen Berlins hinaus gewachsen ist, spielt sich gewissermaßen selbst. Er bezeichnete seine erste Erfahrung als Schauspieler, beziehungsweise mit der Figur des DJ Ickarus, so, dass es eine Art symbiotische Beziehung zwischen den beiden gab: „Ich kenn den Ickarus sehr gut, weil er so ist, wie ich nicht hätte werden sollen. Er ist mein eigener Dämon, aber auch einer, der gerne dahin will, wo ein Paul Kalkbrenner vielleicht heute ist.“ Ob Kalkbrenner, der mit seinem Schauspieldebüt tatsächlich mehr als brilliert, weiterhin auf der Leinwand zu sehen sein wird, wie er es sich wünscht, wird sich spätestens zeigen, wenn er eine Rolle übernimmt, die seinem eigenen Leben nicht ganz so nahe steht. Vor den ebenfalls sauberen Leistungen seiner teils viel erfahrenen Schauspielkollegen in diesem Film muss er sich jedenfalls nicht verstecken.
Sollte es mit der Karriere als Schauspieler nichts werden, stünde Kalkbrenner immer noch der Weg ins Filmmusikgeschäft offen. Der Soundtrack zu „Berlin Calling“ stammt bis auf eine Ausnahme aus seiner Feder, beziehungsweise aus seinem Rechner. Die Komposition für diesen Film stellt bei weitem nicht die erste Arbeit dar, die Kalkbrenner im Filmbereich gemacht hat. Das wiederum merkt man dem Soundtrack von „Berlin Calling“ an, der mit einer sehr reifen und immer passenden Musik daherkommt. So sind es, neben dem realistischen Stil Stöhrs, die packenden kalkbrennerschen Rhythmen, die es erlauben, „Berlin Calling“ so intensiv zu erleben.
Fazit: Nachdem das Regiedebüt von Hannes Stöhr, Berlin is in Germany, vor ein paar Jahren bereits mit seiner ungewöhnlichen, erfrischenden Art begeistern konnte, gelingt es dem Jungregisseur nun mit „Berlin Calling“ nachzulegen. Die Themenkomplexe und die artifizielle Machart machen aus dem Film quasi eine Elektro-Version von „Schlafes Bruder“.