Kapitalismuskritik ist wieder en vogue! Seit die Finanzkrise gesamte Branchen ins Wanken gebracht und die westliche Welt in die Rezessionsangst gestürzt hat, überbieten sich Industrielle und Politiker gegenseitig mit Schuldzuweisungen. Was dabei offensichtlich wird: So richtig blickt im Dschungel der freien Marktwirtschaft niemand mehr durch. Zuletzt hat sich Erwin Wagenhofer mit Let’s Make Money an einer Bestandsaufnahme dieser wahnsinnig komplexen Materie versucht. Der Engländer Ben Hopkins (37 Uses For A Dead Sheep) geht mit „Pazar“ den umgekehrten Weg. Der Film versucht nicht, Strukturen aufzuschlüsseln – ganz im Gegenteil: Hopkins widmet sich der Verständnis- und Ratlosigkeit gegenüber den Mechanismen des Systems. Außerdem verzichtet er auf den zurzeit weit verbreiteten apokalyptischen Unterton und erzählt statt vom Ende lieber vom Anfang des Kapitalismus. „Pazar“ ist eine unaufdringliche Geschichte ohne wedelnden Zeigefinger, die ihr großes Thema allerdings fast schon zu ruhig angeht.
Irgendwo in der ostanatolischen Provinz: Der spitzbübische Mihram (Tayanç Ayaydin) ist ein Händler der alten Schule. Ständig ist er auf Tour, um immer im Angebot zu haben, wonach seine Kunden gerade verlangen. Die Preise sind natürlich Verhandlungssache. Seine kleinen Geschäfte reichen allerdings kaum aus, um sich und seiner Familie ein stabiles Einkommen zu sichern. Ideen und Träume hat er reichlich, etwa die Eröffnung eines Handy-Shops, denn er hat vernommen, dass Mobiltelefone bald chic sein werden. Als ihn die Ärztin des lokalen Krankenhauses beauftragt, dringend benötigte Medikamente jenseits der Grenze in Aserbaidschan zu besorgen, wittert Mihram seine Chance. Großer Lohn winkt zwar nicht, bezahlt wird aber im Voraus. Und so versucht der Glücksspieler unterwegs, das Geld zu mehren. Doch dann kommen ihm die weit skrupellosere Konkurrenz und der undurchschaubare Neuankömmling „Kapitalismus“ in die Quere...
Nach einer kurzen Exposition stellt bereits die zweite Sequenz unmissverständlich klar, worin Mihrams Problem besteht. „Es geht nur ums Geld, Mihram“, säuseln ihm singende Damen von einem vorbeifahrenden Auto her entgegen. Aber er hört sie nicht, obwohl sich der persönlich an ihn gerichtete Singsang natürlich nur in seinem Kopf abspielt. Das Mantra des maximalen Profits ist in seinen traditionellen Vorstellungen nicht verankert. Im Gegensatz zu seinem Schwarzmarkt-Bekannten Mustafa (Hakan Sahin) sind ihm ethische Motive keineswegs fremd. Wenn schon nicht der Markt, dankt es ihm immerhin seine Frau Elif (Senay Aydin), die Allahs Wohlwollen für den vorerst wenig profitablen Trip beschwört. Handel ist eine Kunst; und vollführt wird sie mit Charisma. Auf den Vermerk eines Zulieferers, ohne Englischkenntnisse käme Mihram doch nicht mehr von der Stelle, entgegenet der verständislose Provinzler, dass er Jack-Nicholson-Grimassen imitieren könne. Doch trotz eindrucksvoller Demonstration behält sein Gegenüber Recht: Die kleine Welt des ostanatolischen Handlungsreisenden ist im Wandel.
Im Verlauf seines Trips wird nicht etwa illustriert, wie Mihram dem System auf die Schliche kommt, sondern wie er immer wieder darüber stolpert. Selbst sein naives Vertrauen in etwaige Glückspielerehre wird enttäuscht, als eine Horde schlechter Verlierer ihren Malus unsanft zurückfordert. Begleitet wird er dabei von seinem Onkel Fazil (Genco Erkal), den Hopkins dramaturgisch geschickt ausnutzt: einerseits als kauzigen Sidekick, der den leicht melancholischen Humor des Films mit bissigen Kommentaren maßgeblich mitträgt, andererseits als komplementären Entwurf zu Mihram. Denn Fazil ist bereits am System gescheitert. Nach einem Alkoholexzess und kleineren Ausfälligkeiten, deren Klärung seiner Ansicht folgend unter echten Männern kein Problem sein dürfte, hat ihn seine Firma trotz Jahrzehnten sauberer Arbeit vor die Tür gesetzt. Ein stramm geführtes Unternehmen verlangt eben nach uneingeschränkter Funktionalität; einer Eigenschaft, die Mihram und seinem Onkel fehlt.
Im letzten Abschnitt stellt Hopkins seinen Protagonisten vor die schwierige Wahl, mit unlauteren Mitteln im Geschäft zu bleiben, oder sich der Konkurrenz geschlagen zu geben. Hier hätte „Pazar“ leicht selbstgefällig werden können. Dass es dazu nicht kommt, liegt vor allem an den guten Darstellern. Die interpretieren ihre Figuren nicht als Märtyrer der alten Ordnung, sondern als bauernschlaue und ausgesprochen sympathische Gesellen, mit denen es sich leichter lachen als leiden lässt. Tayanç Ayaydin wurde für seine Rolle als Mihram als „Bester Schauspieler“ beim diesjährigen Filmfestival in Locarno ausgezeichnet. Außerdem verzichtet Hopkins glücklicherweise darauf, den provinziellen Ausläufern des übermächtigen Kapitalismus ein böses Gesicht zu verleihen. Einen echten Antagonisten gibt es nicht und all diejenigen, die sich Mihram in den Weg stellen, versuchen selber bloß, Schritt zu halten. „Pazar“ stellt klar, dass sich das System nicht auf einzelne Missetäter reduzieren lässt und macht damit gerade im Kontext der wüsten Krisendebatte eine zentrale Anmerkung.
Untrennbar mit den kleinen und großen Fallstricken moderner Wirtschaft ist aber auch der Fall selbst verbunden. Und den spart „Pazar“ aus. Selbst dem übel zugerichteten Fazil ist die Notlage nicht anzusehen, geschweige denn Mihrams Familie, die trotz abwechslungsarmem Speiseplan eigentlich ganz munter wirkt. Die empfängt den Reisenden nach dem Trip aufmerksam mit einem liebevoll eingerichteten Handygeschäft, dem bloß noch die Waren fehlen. Also doch die Rückkehr in eine heile Welt? Mihram stolpert zwar, wirklich hinfallen lässt Hopkins ihn nicht. Ein Drama über die destruktiven Kräfte des Kapitalismus war aber ohnehin nicht seine Absicht. Den Zynismus seines Subjektes spart er aus, spektakulär oder spannend ist seine Antwort darauf allerdings auch nicht ausgefallen. „Pazar“ ist ein kleiner, humorvoller Film, der ganz bewusst genau die Frage an den globalisierten Markt stellt, die große Teile des Publikums ebenso umtreiben dürfte: Wer blickt da noch durch?