Nach dem großen Boom, den es Mitte der 90er Jahre erlebt hat, ging es recht schnell bergab mit dem amerikanischen Independent-Kino. Produzenten und Filmemacher betrieben einen regelrechten Ausverkauf, der schließlich darin gipfelte, dass alle großen Hollywood-Studios ihre eigenen Independent-Labels schufen. Nur wie unabhängig kann ein Film aus dem Hause „Warner Independent“ oder „Paramount Vantage“ wirklich sein? Doch seit ein paar Jahren formiert sich langsam eine Gegenbewegung zu dieser Entwicklung. Filmemacher wie Buddy Giovinazzo („Life Is Hot In Cracktown“), Jeff Nichols (Shotgun Stories), Lance Hammer (Ballast), Andrew Bujalski („Funny Ha Ha“,Beeswax), Aaron Katz („Dance Party, USA“, „Quiet City“) und Kelly Reichardt („River of Grass“, „Old Joy“) haben sich auf die Arbeiten von John Cassavetes und die frühen Werke von Gus Van Sant, Jim Jarmusch oder Richard Linklater besonnen und sind damit zu den Wurzeln des amerikanischen Independent Kinos zurückgekehrt. In Kelly Reichardts drittem Langfilm, dem herzzerreißenden Drama „Wendy And Lucy“, zeichnen sich zudem noch deutlich europäische Einflüsse ab. Inspiriert vom italienischen Neorealismus und den eindringlich leisen Filmen der belgischen Gebrüder Dardenne (Lornas Schweigen) hat die amerikanische Regisseurin ein kleines, aber deshalb umso wirkungsvolleres Meisterwerk geschaffen.
Wendy (Michelle Williams, Brokeback Mountain, Synecdoche, New York) ist auf dem Weg von Indiana nach Alaska. Dort werden noch Menschen gebraucht. Das hat die Mittzwanzigerin zumindest gehört. Also hat sie, die zuvor bei ihrer Schwester und deren Mann untergeschlüpft war, sich zusammen mit ihrem treuen Hund Lucy auf den Weg gemacht. Bis nach Oregon hat sie es bisher in ihrem alten, ziemlich klapprigen Wagen geschafft. Doch nun will er nicht mehr anspringen, und Wendy ist irgendwo im Umland von Portland gestrandet. Die Reparatur wird teuer, dabei geht ihr das Geld sowieso schon langsam aus. In ihrer Verzweiflung stiehlt sie für Lucy ein paar Dosen Hundefutter in einem Supermarkt und löst damit eine tragische Kettenreaktion aus. Als sie nach mehreren Stunden von der Polizei wieder freigelassen wird, ist Lucy, die Wendy vor dem Supermarkt angebunden hatte, spurlos verschwunden…
Die Gemeinde, in der Wendy fest hängt, liegt geradezu idyllisch an den Rändern eines fast schon majestätischen Waldes. In den ersten Szenen des Films spaziert die junge Frau durch den Wald und spielt mit Lucy. Dabei verschwindet ihre Hündin zum ersten Mal. Sie läuft einfach los und erkundet die malerische Gegend auf eigenen Pfoten. Schon in dieser eigentlich noch alltäglichen Situation, die in dem zu erwartenden Happy End gipfelt – Wendy findet Lucy bei einer Gruppe von jungen Obdachlosen und Driftern an einem großen Lagerfeuer –, schwingt ein leiser, aber nachdrücklicher Unterton von Hilflosigkeit und Verzweiflung mit. Das Idyll der Anfangsbilder ist trügerisch und kann keinen Bestand haben. Die herumziehenden Obdachlosen im Wald verweisen deutlich auf eine neue alte Form der Heimatlosigkeit.
Auch wenn Wendy noch ein Auto und ein paar Hundert Dollar in der Tasche hat – sie führt in einem Schulheft akribisch Buch über ihre Finanzen und klammert sich damit an einem Rest von bürgerlicher Normalität –, ist ihr Schicksal von dem der Menschen am Lagerfeuer gar nicht so weit entfernt. In den vorsichtigen, zögerlichen Schritten, mit denen Michelle Williams sich der Gruppe nähert, drückt sich eben nicht nur (Berührungs-)Angst aus. Sie erzählt auch von Wendys Wissen um ihre eigene Situation und ihre alles andere als gesicherte Zukunft.
Kelly Reichardts Amerika ist geprägt von Einsamkeit und Verfall, von Menschen, die sich irgendwie durchschlagen, und solchen, die ihren Status quo mit aller Macht sichern wollen. So etwas wie Verbundenheit oder Zusammengehörigkeit gibt es in dieser Welt nicht mehr. Als Wendy immer tiefer abrutscht und neben ihrem Auto auch noch Lucy verliert, ist sie ganz auf sich allein gestellt. Ein Anruf bei ihrer Schwester wird zu einem bitteren familiären Drama, das mit dem deprimierenden Ton einer toten Leitung endet. Der Angestellte, der sie bei ihrem Ladendiebstahl erwischt, ist ein übereifriger, selbstgefälliger Teenager, dem die menschenverachtenden Haltungen und Lehren der Neo-Konservativen bis ins Blut eingegangen sind. Nur ein alter Wachmann reicht der jungen Frau die Hand, aber seine Möglichkeiten sind selbst mehr als nur beschränkt. So muss es bei einer Geste bleiben, die Wendy und dem Zuschauer noch schmerzlicher vor Augen führt, wie weit es mit Amerika und den Menschen gekommen ist.
Michelle Williams ist geradezu atemberaubend in der Rolle der Wendy. Von der hoffnungsvollen Naivität, die sie in Wim Wenders unterschätztem Amerika-Porträt Land Of Plenty, der zusammen mit „Wendy and Lucy“ übrigens ein perfektes Double Feature bildet, in jeder Szene ausstrahlt, ist hier nichts mehr übriggeblieben. Eine überwältigende Aura der Verlorenheit umgibt sie nun. Wendy ist nicht bereit aufzugeben, irgendwie macht sie immer weiter. Aber auch darin liegt kaum wirkliche Hoffnung. Außer ein paar Tränen, die ihr leise, beinahe verstohlen über das Gesicht rinnen, dringt kaum etwas von Wendys Gefühlen nach außen. Michelle Williams spielt sie so zurückgenommen wie nur eben möglich.
Aus Michelle Williams konzentrierter Reglosigkeit erwächst auch dank Kelly Reichardts ruhiger, extrem genau beobachtender Inszenierung eine ungeheuere emotionale Wucht. Wie die nüchternen, die Wirklichkeit in hartem Schwarzweiß einfangenden Fotos der legendären amerikanischen Fotografen der 30er und frühen 40er Jahre fangen auch Kelly Reichardt und Michelle Williams einen gesellschaftlichen Zustand ein und schließen damit, dieser Vergleich deutet es schon an, einen Bogen zu den Jahren der Großen Depression, die nun – das ernüchternde Schlussbild des Film lässt daran keinen Zweifel – zurückgekehrt ist in das Land des Überflusses.