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    Aufbruch zum Mond
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Aufbruch zum Mond
    Von Antje Wessels

    Als das neue Wunderkind Hollywoods wird Regisseur und Drehbuchautor Damien Chazelle hochgeschätzt. Kein Wunder, schließlich ist er der jüngste Regie-Oscar-Gewinner aller Zeiten. Sein mitreißendes Spielfilmdebüt „Whiplash“ inszenierte er, gerade einmal 28 Jahre alt, in nur 19 Tagen. Das Ergebnis: fünf Nominierungen für den Oscar, von denen der Schlagzeug-Thriller drei dann auch gewann. Dass er absolut kein One-Hit-Wonder ist, war dann spätestens zwei Jahre später klar, als er mit seiner zweiten Regiearbeit „La La Land“ Publikum wie Kritiker gleichermaßen verzauberte. Das nostalgische L.A.-Musical mit Ryan Gosling und Emma Stone heimste gleich sechs Goldjungen ein (darunter eben auch den für die Beste Regie) und wurde insgesamt sogar 14 Mal nominiert. Damit zählt der Film neben „Titanic“ und „Alles über Eva“ zu den Top 3 der meistnominierten Filme seit Beginn der Oscars. Ein solch grandioser Triumph setzt einen Filmemacher natürlich enorm unter Druck, denn eigentlich gibt es in so einer Situation nur zwei Möglichkeiten: Entweder knüpft man nahtlos an den Erfolg des Vorgängers an - oder man setzt das nächste Projekt mit Anlauf so richtig in den Sand.

    Einen Rüffel erhielt das biographische Raumfahrer-Drama „Aufbruch zum Mond“ bei seiner Premiere als Eröffnungsfilm des Filmfestivals von Venedig jedenfalls schon (wenn auch von fragwürdiger Seite): Chazelle entschied sich nämlich ganz bewusst dazu, den ikonografischen Moment, in der Neil Armstrong und Edwin „Buzz“ Aldrin den Mond mit einer US-Flagge markieren, nicht im Film unterzubringen. Der Regisseur und sein Team wollten mit „Aufbruch zum Mond“ eben nie ein politisches Statement setzen, sondern sich vorwiegend mit der Person Neil Armstrong und seiner Familie befassen. Gerade für konservative Amerikaner ein absolutes No-Go, diese patriotische Heldentat im Film nicht angemessen (sprich mit Stars und Stripes) zu würdigen. Aber man muss sich wohl tatsächlich solche abseitigen Punkte heraussuchen, um überhaupt groß was zum Kritisieren zu finden. Denn auch wenn Chazelles erste Regiearbeit, bei der er nicht auch selbst das Drehbuch verfasst hat, zugleich auch seine bisher konventionellste ist, begeistert „Aufbruch zum Mond“ sowohl erzählerisch als auch inszenatorisch als großgedachtes Hollywoodkino, das seinen Zuschauern ein eigentlich jedem bekannten Ereignis noch einmal von einer völlig neuen Seite näherbringt. Zudem ist „Aufbruch zum Mond“ auch einfach ein audiovisuelles Erlebnis von universeller Schönheit. 140 Minuten, die zum Staunen einladen.

    Als die Tochter von Neil (Ryan Gosling) und Janet Armstrong (Claire Foy) 1962 im Alter von nur zwei Jahren verstirbt, stürzt sich der junge Raumfahrer und ehemalige Navy-Pilot wie besessen in seine Arbeit. Sein Ziel: Als erster Mensch der Welt möchte er einen Fuß auf den Mond setzen. Doch der Weg dorthin ist steinig. Neils Testergebnisse sind gut und er wird als einer von neun Raumfahrern ins Gemini-Programm aufgenommen, das als Vorbereitung auf das Apollo-Programm dienen soll. Aber während der Tests kommen immer wieder Raumfahrer zu Tode und die Stimmung im Land kippt zunehmend. Darf man für die Forschung tatsächlich Menschenleben opfern? Auch im Hause Armstrong nagen die Ereignisse an den Nerven der besorgten Ehefrau Janet, der es davor graut, ihren Kindern irgendwann einmal sagen zu müssen, dass ihr Vater nicht mehr nach Hause kommt. Doch die Apollo-11-Mission rückt näher und 1969 steht Neil Armstrong kurz davor, zum Mond aufzubrechen…

    Die Entfernung zwischen Erde und Mond beträgt 384.400 Kilometer. Aber „Aufbruch zum Mond“ konzentriert sich die meiste Zeit auf einen viel kleineren Raum. In der dem Film zugrunde liegenden Biographie „First Man“ von James R. Hanson geht es vornehmlich um den Menschen und Familienvater Neil Armstrong und weniger um den Astronauten. Und so rüttelt einen Drehbuchautor Josh Singer („Die Verlegerin“, „Spotlight“) direkt zu Beginn erst einmal emotional ordentlich durch. Zwar wenige, aber dafür besonders einprägsame Szenen zwischen den glücklichen Armstrongs reichen aus, um direkt ein Gespür für die enge Vertrautheit der bereits seit Studentenzeiten liierten Eheleute zu entwickeln. Umso heftiger wirkt der frühe Tod der kleinen Karen, der Neils Charakter spürbar prägt, wenn er sich anschließend verbissen in seine Arbeit vertieft.

    Damien Chazelle inszeniert „Aufbruch zum Mond“ zweigleisig: Neben den wichtigsten Stationen der amerikanischen Raumfahrtgeschichte auf dem Weg zur historischen Mondmission Apollo 11, die der Regisseur immer wieder einstreut, steht der Privatmensch Neil Armstrong im Fokus. Die (spätere) Hochstilisierung zum All-American-Hero verweigert Josh Singer dem Protagonisten in seinem Skript allerdings konsequent. Stattdessen stellt er nicht nur dar, wie an der Mondmission öffentliche Zweifel aufkommen, sondern zeichnet auch die Figur Armstrong ambivalent. Dieser Mann, der Frau und Kinder über alles liebt, scheint nach und nach das Gespür für die Prioritäten im Leben zu verlieren. Besonders deutlich wird dies in einer Szene, in der Armstrong seinen beiden Söhnen Rede und Antwort zur anstehenden Mondmission steht. Das Gespräch wirkt so wie eine der regulären Pressekonferenzen, die er geben muss, inklusive einem unbeholfenen „Noch Fragen?“ am Ende und einem kühlen Handschlag, mit dem er – statt einer Umarmung – seinen Ältesten verabschiedet.

    Dem fehlenden Einfühlungsvermögen gegenüber seiner sich um ihn sorgenden Familie steht die völlige Aufopferung für die Mission gegenüber. Selbst als seine Kollegen nach und nach durch Unfälle oder technische Defekte ums Leben kommen, hält Armstrong eisern an seinem Ziel fest. Doch was sich zunächst wie das zweieinhalbstündige Porträt eines Egomanen anhören mag, verdichtet sich mit fortlaufender Spieldauer zur tragischen Charakteranalyse eines durch den Verlust seiner Tochter gebrochenen Mannes. In den letzten zwanzig Minuten führt Chazelle diese beiden Ebenen gekonnt zusammen und schafft vor der Kulisse des menschenleeren Mondes einen Kinomoment für die Ewigkeit, wenn sich schließlich Armstrongs wahre Intention für die Reise offenbart.

    Vor allem hier, aber auch in den Weiten des Weltalls und sogar im beengten Inneren der Raumkapsel zeigt Chazelle sein ganzes visuelles Gespür für Bildaufteilung und Farbkompositionen. Gedreht wurde zum Großteil mit 70mm-IMAX-Kameras, für die erneut Kameramann Linus Sandgren („La La Land“) verantwortlich zeichnet. Sandgren gelingen kristallklare, auf das Wesentliche reduzierte und bisweilen gar Ehrfurcht gebietende Bilder, die einem auch als Zuschauer die faszinierende Welt der Astronauten nahebringen. In einer frühen Szene zeichnen sich in Neil Armstrongs Helm langsam die Umrisse der Erde ab. Das Leuchten in seinen Augen dürfte auch das Leuchten in den Augen vieler Zuschauer widerspiegeln; zuletzt bekam man derart originalgetreue und tricktechnisch hervorragend konzeptionierte Bilder höchstens in Christopher Nolans „Interstellar“ oder Alfonso Cuaróns „Gravity“ zu sehen. Es lässt sich einfach nicht anders sagen: „Aufbruch zum Mond“ ist schlicht und ergreifend ein wunderschöner Film!

    Doch nicht nur auf visueller Ebene setzt Chazelle auf die Arbeit bewährter Teamkollegen. Auch „La La Land“-Komponist Justin Hurwitz ist wieder mit an Bord und bestätigt eine frühe Aussage des Regisseurs, dass auch in „Aufbruch zum Mond“ die Musik einen wichtigen Part einnehmen werde. So erkennt man in Hurwitz‘ Score nicht nur einige variierte Motive aus Chazelles Hollywood-Musical wieder, das Armstrong-Ehepaar verbindet obendrein eine große Liebe zum Tanz und zur Musik. In Kombination mit den atemberaubenden Bildern ergeben sich so zahlreiche Bildmontagen, die vor allem durch die musikalische Untermalung Wirkung entfalten. Man kann einfach nachfühlen, weshalb sich Neil Armstrong bei bestimmten Titeln plötzlich ganz nah mit seiner Ehefrau verbunden fühlt, obwohl die beiden Tausende von Kilometern trennen. Auch ersetzt die Musik teilweise den Dialog und ist dabei weitaus aussagekräftiger im Hinblick auf die Emotionen der Figuren.

    Für Ryan Gosling dürfte es nach „Half Nelson“ und „La La Land“ die nunmehr dritte Oscar-Nominierung geben. Dem Kanadier gelingt das subversive Changieren zwischen dem hochehrgeizigen Astronauten, dem gebrochenen Familienvater und dem zwischendurch immer wieder das Glück in seinem Leben entdeckenden Ehemann mit bemerkenswerter Selbstverständlichkeit. Manchmal sind es nur kleine Zuckungen der Mundwinkel, das etwas zu lange Starren auf einen Fleck oder ein kurzes Wort am Telefon als Reaktion auf eine schockierende Nachricht, in die Gosling sein ganzes schauspielerisches Talent packt.

    Selbst die ihm bisweilen vorgeworfene Monotonie im Ausdruck fügt sich optimal in die Charakterisierung seiner Rolle. Armstrong bleibt im Großen und Ganzen ein äußerlich unnahbarer Mann, bei dem es umso spannender ist, wenn man eben doch hin und wieder hinter die Fassade schauen kann. Claire Foy („Unsane: Ausgeliefert“) mimt die aufopferungsvolle, mit der Zeit jedoch immer mehr für ihre eigenen Bedürfnisse einstehende Ehefrau mit viel Hingabe. Ihre Motivation ist immer nachvollziehbar, was dem Zuschauer den inneren Konflikt innerhalb der Familie glaubhaft nahebringt.

    Fazit: Damien Chazelles meisterhaftes Neil-Armstrong-Biopic „Aufbruch zum Mond“ ist keine Geschichte über einen ikonografischen Helden, sondern das Porträt eines sensiblen Mannes, der der Menschheit zu einem ihrer größten Triumphe verhalf.

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